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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Die Bildnisse Goethes.

ist einer der wenigen Glücklichen, die eine von den (unter Ur. 21) von Rottele
abgeführten Photographien des Cottaschen Bildes in Cabinetgröße "ohne alle
Retonchirung" besitzen. Beide Bilder, die Photographie und die Nadirung Angers,
die übrigens genau dieselben Maße haben, liegen, während wir dies schreiben,
vor uns neben einander. Und da können wir denn Rottele nur entgegnen:
"Nein, das kann man nicht mit gutem Gewissen sagen." Rottele hat auch sicherlich
ein böses Gewissen gehabt, als er diese Zeilen hinschrieb, denn, nach seiner
sonstigen Ausdrucksweise zu urtheilen, würde er den Mund viel voller genommen
haben, wenn er von der Güte des Ungerschen Bildes ehrlich überzeugt gewesen
wäre. "Daß es den Ausdruck des Gemäldes erreicht" -- wie kühl! wie vor¬
sichtig! Also den Ausdruck des Gesichtes bloß? das Gesicht selbst aber nicht?
Nein, weder das eine noch das andre. Nicht nur daß Stirn, Nase, Mund,
Kinn und vor allem das Auge total anders gezeichnet sind, auch der Ausdruck
des Gesichts ist wesentlich verändert. Rottele und Braumüller, der Verfasser
und der Verleger des vorliegenden Werkes, hätten Herrn Prof. Unger, als er
ihnen diese Platte ablieferte, getrost dasselbe sagen können, was Merck sagte, als
ihm Goethe den "Clavigo" schickte. Von einer endgiltigen Wiedergabe des Ori¬
ginals, die nach einer vollkommnern Nachbildung gar kein Verlangen erweckte, ist sie
jedenfalls weit entfernt. Das glauben wir "mit gutem.Gewissen" sagen zu können.

Wenden wir uns nun zu dem Texte des Rollettschcn Werkes, so erhalten
wir in noch höherm Grade den Eindruck, daß Idee und Ausführung desselben
sich nicht decken. Mit rührendem Spür- und Sammeleifer hat der Verfasser
das Material zu seiner Arbeit zusammengetragen, aber die Verarbeitung zeigt
vielfach deu Dilettanten, der seiner Aufgabe nicht recht gewachsen ist. Sachlich
höchst werthvoll sind natürlich die jedem Bilde beigegebnen Nachrichten über
seine Herkunft, seine Schicksale und die Vervielfältigungen, die es gefunden hat.
Ob aber in diesen Angaben alles richtig combinirt' ist, ob namentlich die chrono¬
logische Anordnung der Bilder gehörig begründet ist, ob nicht gelegentlich gar
aus einem Bilde zwei gemacht sind, wagen wir nicht zu unterscheiden; gelinde
Zweifel darüber sind uns hie und da beigekommen. Doch bescheiden wir uns
gern, da wir nur einen geringen Bruchtheil des Materials, welches dem Ver¬
fasser vorgelegen, zu controliren in der Lage sind. Von sichtlichen Schwächen
dagegen ist die Einleitung behaftet, die der Bildersammlung vorausgeht. Sie
beginnt mit einer chronologisch geordneten Zusammenstellung der literarischen
Zeugnisse über Goethes äußere Erscheinung und orientirt im allgemeinen über
die Bildnisse Goethes, indem sie zunächst die "interessanten, in irgend einer Be¬
ziehung besonders hervorhebenswerthen" aufzählt und aus diesen "als durchaus
interessant zu betrachtenden Bildnissen" dann nochmals eine kleinere Anzahl aus-


Die Bildnisse Goethes.

ist einer der wenigen Glücklichen, die eine von den (unter Ur. 21) von Rottele
abgeführten Photographien des Cottaschen Bildes in Cabinetgröße „ohne alle
Retonchirung" besitzen. Beide Bilder, die Photographie und die Nadirung Angers,
die übrigens genau dieselben Maße haben, liegen, während wir dies schreiben,
vor uns neben einander. Und da können wir denn Rottele nur entgegnen:
„Nein, das kann man nicht mit gutem Gewissen sagen." Rottele hat auch sicherlich
ein böses Gewissen gehabt, als er diese Zeilen hinschrieb, denn, nach seiner
sonstigen Ausdrucksweise zu urtheilen, würde er den Mund viel voller genommen
haben, wenn er von der Güte des Ungerschen Bildes ehrlich überzeugt gewesen
wäre. „Daß es den Ausdruck des Gemäldes erreicht" — wie kühl! wie vor¬
sichtig! Also den Ausdruck des Gesichtes bloß? das Gesicht selbst aber nicht?
Nein, weder das eine noch das andre. Nicht nur daß Stirn, Nase, Mund,
Kinn und vor allem das Auge total anders gezeichnet sind, auch der Ausdruck
des Gesichts ist wesentlich verändert. Rottele und Braumüller, der Verfasser
und der Verleger des vorliegenden Werkes, hätten Herrn Prof. Unger, als er
ihnen diese Platte ablieferte, getrost dasselbe sagen können, was Merck sagte, als
ihm Goethe den „Clavigo" schickte. Von einer endgiltigen Wiedergabe des Ori¬
ginals, die nach einer vollkommnern Nachbildung gar kein Verlangen erweckte, ist sie
jedenfalls weit entfernt. Das glauben wir „mit gutem.Gewissen" sagen zu können.

Wenden wir uns nun zu dem Texte des Rollettschcn Werkes, so erhalten
wir in noch höherm Grade den Eindruck, daß Idee und Ausführung desselben
sich nicht decken. Mit rührendem Spür- und Sammeleifer hat der Verfasser
das Material zu seiner Arbeit zusammengetragen, aber die Verarbeitung zeigt
vielfach deu Dilettanten, der seiner Aufgabe nicht recht gewachsen ist. Sachlich
höchst werthvoll sind natürlich die jedem Bilde beigegebnen Nachrichten über
seine Herkunft, seine Schicksale und die Vervielfältigungen, die es gefunden hat.
Ob aber in diesen Angaben alles richtig combinirt' ist, ob namentlich die chrono¬
logische Anordnung der Bilder gehörig begründet ist, ob nicht gelegentlich gar
aus einem Bilde zwei gemacht sind, wagen wir nicht zu unterscheiden; gelinde
Zweifel darüber sind uns hie und da beigekommen. Doch bescheiden wir uns
gern, da wir nur einen geringen Bruchtheil des Materials, welches dem Ver¬
fasser vorgelegen, zu controliren in der Lage sind. Von sichtlichen Schwächen
dagegen ist die Einleitung behaftet, die der Bildersammlung vorausgeht. Sie
beginnt mit einer chronologisch geordneten Zusammenstellung der literarischen
Zeugnisse über Goethes äußere Erscheinung und orientirt im allgemeinen über
die Bildnisse Goethes, indem sie zunächst die „interessanten, in irgend einer Be¬
ziehung besonders hervorhebenswerthen" aufzählt und aus diesen „als durchaus
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/417>, abgerufen am 23.07.2024.