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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Rußland und die Reform.

zosen von 1789 und viermal so stark als die Preußen von 1343, in ihrer nnge-
Heuren Mehrzahl noch im Zustande der Halbbarbarei und ohne den geringsten Be¬
griff von den einfachsten Fragen, Rechten und Pflichten politischer Art Vertreter
für eine Gesetzgebung wählen. Wie wollen sich die Deputirten aus Polen und
Sibirien, aus den baltischen Provinzen, aus Archangel und Odessa verständigen,
sie, die 'ganz verschiedne Bildungsstufen vertreten, ganz verschleime Interessen haben
und ganz verschiedne Sprachen reden? Vom russischen Volke sind mehr als neun
Zehntel gutmüthige, genügsame, in kleinen Dingen recht anstellige Leute, die aber
im ganzen und großen durchaus unmündig genannt werden müssen. Sie haben
keine Gedanken, kam" Empfindungen, und ihr Horizont ist so eng begrenzt wie
nur möglich. Höchstens sechs Procent der Nation besitzen Bildung, und darunter
sind noch die begriffen, deren Bildung näher besehen, Verbildung ist, und überdies
sind alle, die durch die Schulen gegangen sind, von jener Volksmasse getrennt wie
durch eine breite Kluft ohne Brücken. Der Adel, dem unter Umständen die Führung
zufallen würde, ist beim Bauer nicht so angesehen, wie eine solche Rolle es ver¬
langt, jeuer betrachtet ihn nicht als seinen patriarchalischen Freund, sondern als
seinen Ausbeuter. Der Beamte erscheint und ist dem Volke der böse Vogt, der
die ihm übertragne Vollmacht des weißen Zaren, des guten Herrn im fernen Peters¬
burg, mißbraucht und sich bestechen läßt, wenn er anzuordnen oder Recht zu sprechen
hat. Einen eigentlichen Mittelstand giebt es im Lande nur sporadisch. Der her¬
vorragenden Männer aus den Kreisen der Landwirtschaft, der Industrie, des Handels
und der gelehrten Berufsarten giebt es zu wenig, als daß sie das, was sonst für
ein verfassungsmäßiges Leben mangelt, zu ersetzen vermöchten. Ja gerade aus der
Sphäre der Gelehrten droht, wenn es zu einer Konstitution nach westlicher Schablone
kommt, ganz besondre Gefahr. Hier haben die Maulhelden des Katheders, des
Literatenthums, der Zcitungsredactioneu schon seither eine große Rolle gespielt und
erhebliches Unheil gesäet und gefördert. Man hat gesehen, wie unfähig die Land¬
schaftsvertretungen (Semstwos) und die Staotverordnetencvllegien (Drauf), wie
selbstsüchtig und ohne Pflichtgefühl sie wirthschafteten. Vertreter dieser, Literaten,
Professoren, Journalisten würden auf einem russischen Reichstage die erste Geige
spielen. Daß die gesundem Elemente des russischen Volkes dem Eifer und der
Suade der radicalen und panslavistischen Schreier und Wühler die Wage halten
würden, ist sehr wenig wahrscheinlich, schon weil bei jeder politischen Krisis die¬
jenigen oben aufkommen, welche die kräftigste Lunge haben und die tönendsten
Redensarten im Munde führen, und da die Radicalen bereits für die Action organisirt
sind. Was diese häßliche Rotte will, weiß man aus der Erfahrung, was sie schon
angerichtet hat, ist uns ebenfalls erinnerlich, und wurde uns neulich von einem
Aufsatz in der "Gegenwart" wieder einmal vor die Augen gehalten. "Vor dem
polnischen Aufstande," so lesen wir da u. a., "ließ die öffentliche Meinung sich von
den Schülern Herzens und Tschcrnitscheffskis gängeln, die den Adel abschaffen, alles
persönliche Grundeigenthum zu Gunsten des altrussischen Gemeindebesitzes confisciren


Rußland und die Reform.

zosen von 1789 und viermal so stark als die Preußen von 1343, in ihrer nnge-
Heuren Mehrzahl noch im Zustande der Halbbarbarei und ohne den geringsten Be¬
griff von den einfachsten Fragen, Rechten und Pflichten politischer Art Vertreter
für eine Gesetzgebung wählen. Wie wollen sich die Deputirten aus Polen und
Sibirien, aus den baltischen Provinzen, aus Archangel und Odessa verständigen,
sie, die 'ganz verschiedne Bildungsstufen vertreten, ganz verschleime Interessen haben
und ganz verschiedne Sprachen reden? Vom russischen Volke sind mehr als neun
Zehntel gutmüthige, genügsame, in kleinen Dingen recht anstellige Leute, die aber
im ganzen und großen durchaus unmündig genannt werden müssen. Sie haben
keine Gedanken, kam» Empfindungen, und ihr Horizont ist so eng begrenzt wie
nur möglich. Höchstens sechs Procent der Nation besitzen Bildung, und darunter
sind noch die begriffen, deren Bildung näher besehen, Verbildung ist, und überdies
sind alle, die durch die Schulen gegangen sind, von jener Volksmasse getrennt wie
durch eine breite Kluft ohne Brücken. Der Adel, dem unter Umständen die Führung
zufallen würde, ist beim Bauer nicht so angesehen, wie eine solche Rolle es ver¬
langt, jeuer betrachtet ihn nicht als seinen patriarchalischen Freund, sondern als
seinen Ausbeuter. Der Beamte erscheint und ist dem Volke der böse Vogt, der
die ihm übertragne Vollmacht des weißen Zaren, des guten Herrn im fernen Peters¬
burg, mißbraucht und sich bestechen läßt, wenn er anzuordnen oder Recht zu sprechen
hat. Einen eigentlichen Mittelstand giebt es im Lande nur sporadisch. Der her¬
vorragenden Männer aus den Kreisen der Landwirtschaft, der Industrie, des Handels
und der gelehrten Berufsarten giebt es zu wenig, als daß sie das, was sonst für
ein verfassungsmäßiges Leben mangelt, zu ersetzen vermöchten. Ja gerade aus der
Sphäre der Gelehrten droht, wenn es zu einer Konstitution nach westlicher Schablone
kommt, ganz besondre Gefahr. Hier haben die Maulhelden des Katheders, des
Literatenthums, der Zcitungsredactioneu schon seither eine große Rolle gespielt und
erhebliches Unheil gesäet und gefördert. Man hat gesehen, wie unfähig die Land¬
schaftsvertretungen (Semstwos) und die Staotverordnetencvllegien (Drauf), wie
selbstsüchtig und ohne Pflichtgefühl sie wirthschafteten. Vertreter dieser, Literaten,
Professoren, Journalisten würden auf einem russischen Reichstage die erste Geige
spielen. Daß die gesundem Elemente des russischen Volkes dem Eifer und der
Suade der radicalen und panslavistischen Schreier und Wühler die Wage halten
würden, ist sehr wenig wahrscheinlich, schon weil bei jeder politischen Krisis die¬
jenigen oben aufkommen, welche die kräftigste Lunge haben und die tönendsten
Redensarten im Munde führen, und da die Radicalen bereits für die Action organisirt
sind. Was diese häßliche Rotte will, weiß man aus der Erfahrung, was sie schon
angerichtet hat, ist uns ebenfalls erinnerlich, und wurde uns neulich von einem
Aufsatz in der „Gegenwart" wieder einmal vor die Augen gehalten. „Vor dem
polnischen Aufstande," so lesen wir da u. a., „ließ die öffentliche Meinung sich von
den Schülern Herzens und Tschcrnitscheffskis gängeln, die den Adel abschaffen, alles
persönliche Grundeigenthum zu Gunsten des altrussischen Gemeindebesitzes confisciren


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[0314] Rußland und die Reform. zosen von 1789 und viermal so stark als die Preußen von 1343, in ihrer nnge- Heuren Mehrzahl noch im Zustande der Halbbarbarei und ohne den geringsten Be¬ griff von den einfachsten Fragen, Rechten und Pflichten politischer Art Vertreter für eine Gesetzgebung wählen. Wie wollen sich die Deputirten aus Polen und Sibirien, aus den baltischen Provinzen, aus Archangel und Odessa verständigen, sie, die 'ganz verschiedne Bildungsstufen vertreten, ganz verschleime Interessen haben und ganz verschiedne Sprachen reden? Vom russischen Volke sind mehr als neun Zehntel gutmüthige, genügsame, in kleinen Dingen recht anstellige Leute, die aber im ganzen und großen durchaus unmündig genannt werden müssen. Sie haben keine Gedanken, kam» Empfindungen, und ihr Horizont ist so eng begrenzt wie nur möglich. Höchstens sechs Procent der Nation besitzen Bildung, und darunter sind noch die begriffen, deren Bildung näher besehen, Verbildung ist, und überdies sind alle, die durch die Schulen gegangen sind, von jener Volksmasse getrennt wie durch eine breite Kluft ohne Brücken. Der Adel, dem unter Umständen die Führung zufallen würde, ist beim Bauer nicht so angesehen, wie eine solche Rolle es ver¬ langt, jeuer betrachtet ihn nicht als seinen patriarchalischen Freund, sondern als seinen Ausbeuter. Der Beamte erscheint und ist dem Volke der böse Vogt, der die ihm übertragne Vollmacht des weißen Zaren, des guten Herrn im fernen Peters¬ burg, mißbraucht und sich bestechen läßt, wenn er anzuordnen oder Recht zu sprechen hat. Einen eigentlichen Mittelstand giebt es im Lande nur sporadisch. Der her¬ vorragenden Männer aus den Kreisen der Landwirtschaft, der Industrie, des Handels und der gelehrten Berufsarten giebt es zu wenig, als daß sie das, was sonst für ein verfassungsmäßiges Leben mangelt, zu ersetzen vermöchten. Ja gerade aus der Sphäre der Gelehrten droht, wenn es zu einer Konstitution nach westlicher Schablone kommt, ganz besondre Gefahr. Hier haben die Maulhelden des Katheders, des Literatenthums, der Zcitungsredactioneu schon seither eine große Rolle gespielt und erhebliches Unheil gesäet und gefördert. Man hat gesehen, wie unfähig die Land¬ schaftsvertretungen (Semstwos) und die Staotverordnetencvllegien (Drauf), wie selbstsüchtig und ohne Pflichtgefühl sie wirthschafteten. Vertreter dieser, Literaten, Professoren, Journalisten würden auf einem russischen Reichstage die erste Geige spielen. Daß die gesundem Elemente des russischen Volkes dem Eifer und der Suade der radicalen und panslavistischen Schreier und Wühler die Wage halten würden, ist sehr wenig wahrscheinlich, schon weil bei jeder politischen Krisis die¬ jenigen oben aufkommen, welche die kräftigste Lunge haben und die tönendsten Redensarten im Munde führen, und da die Radicalen bereits für die Action organisirt sind. Was diese häßliche Rotte will, weiß man aus der Erfahrung, was sie schon angerichtet hat, ist uns ebenfalls erinnerlich, und wurde uns neulich von einem Aufsatz in der „Gegenwart" wieder einmal vor die Augen gehalten. „Vor dem polnischen Aufstande," so lesen wir da u. a., „ließ die öffentliche Meinung sich von den Schülern Herzens und Tschcrnitscheffskis gängeln, die den Adel abschaffen, alles persönliche Grundeigenthum zu Gunsten des altrussischen Gemeindebesitzes confisciren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/314>, abgerufen am 23.07.2024.