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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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treffende Entscheidung über die künftige Staatsform Rußlands frei und nach um
befangner Prüfung aller in Betracht kommenden Eleuicute getroffen werden würde,
so hätte die Idee eines an die Stelle deS .Seinski Sobvr' zu setzenden ,Rcgional-
systems' mindestens Aussicht auf ernste Erwägung, Da alle geschichtliche und Psyche
logische Wahrheit gegen diese Annahme spricht, so läßt sich voraussehen, daß von
einer Entscheidung in diesem Sinne nicht einmal die Rede sein wird. Täuschen
die Anzeichen nicht, so wird der Gang der Dinge etwa folgender sein. Man wird
zögern, so lange es irgend geht, und wenn es nicht mehr geht, wird man zu Be¬
schlüssen gelangen, die man freiwillig nimmermehr getroffen hätte. Entsprechend
den centralistischen Gewohnheiten des Gouvernements und den Wünsche" des be¬
reits gegenwärtig zur treibenden Macht gewordnen Radicalismus wird zunächst
eine aus allen europäischen Gebietstheilen des Reichs beschickte .Commission' zur
Begutachtung eines Reformprojects einberufen werden. Von diesem Project wird
es heiße", daß es hinter deu mäßigsten Erwartungen zurückgeblieben sei, und daß
die Initiative der Regierung dem Bedürfniß und Verlangen des Volkes nicht ge¬
nüge. Ist es einmal so weit gekommen, und hat die Commission das Heft in die
Hände genommen, so findet das fernere sich von selbst, und der Kreislauf der
russischen Revolution hat thatsächlich begonnen . . . Daß die Bewegung, einmal in
Fluß gekommen, unaufhaltsam werden, und daß nach Eröffnung des russischen Par¬
lamentskraters eine revolutionäre Ueberfluthung der sarmatischen Ebene nicht ab-
zuwenden sein wird, lehrt jeder Blick auf die Verhältnisse, unter denen Alexander III.
das Reich seiner Väter überkommen hat. Die Hoffnungen der Wohlgesinnten be¬
schränken sich schon darauf, daß die kaiserliche Initiative dein weitern Vorschreiten der
innern Auflösung zuvorzukommen und für den neuen Wein neue Schläuche zu be¬
schaffen wissen werde, ehe die alten zerplatzt sind. Was man sich nnter den ,neuen
Schläuchen', in welche das russische Staatsleben gefaßt werden soll, gemeinhin denkt,
weiß der Leser. Wahrscheinlich (wir hätten gesagt, möglicherweise) theilt auch er
deu Glauben, daß mit einem großen Constitutiousschlauchc würde geholfen werden
können. Der Glaube an die Heilkraft parlamentarischer Institutionen ist ja der
einzige Glaube, der unserm Geschlechte noch geblieben zu sein scheint. (Zu viel
gesagt, wir und viele andre anßer uns, darunter offenbar auch der Verfasser, theilen
diesen Glanben durchaus nicht unbedingt.) Stellt Rußland wirklich die Probe auf
dieses Exempel an, so wird -- dessen sind wir sicher, der Optimismus, der deu
landläufigen liberalen Anschauungen zu Grunde liegt, um Erfahrungen bereichert
werden, wie sie in der Welt noch nicht gemacht worden sind."

Wir möchten dem noch einiges hinzufügen. Die Franzosen waren, als sie vor
etwas mehr als neun Jahrzehnten den englischen Constitutionalismus uns ihrem
Boden anzupflanzen versuchten, eine verhältnißmcißig kleine, eine im ganzen homo-
gene und eine civilisirte Nation. Noch höher als die damaligen Franzosen standen
die Preußen, als sie vor dreiunddreißig Jahren ihr Verfassungsleben begannen.
Heute sollen die Russen, eine Volksmasse über dreimal so zahlreich als die Fran-


treffende Entscheidung über die künftige Staatsform Rußlands frei und nach um
befangner Prüfung aller in Betracht kommenden Eleuicute getroffen werden würde,
so hätte die Idee eines an die Stelle deS .Seinski Sobvr' zu setzenden ,Rcgional-
systems' mindestens Aussicht auf ernste Erwägung, Da alle geschichtliche und Psyche
logische Wahrheit gegen diese Annahme spricht, so läßt sich voraussehen, daß von
einer Entscheidung in diesem Sinne nicht einmal die Rede sein wird. Täuschen
die Anzeichen nicht, so wird der Gang der Dinge etwa folgender sein. Man wird
zögern, so lange es irgend geht, und wenn es nicht mehr geht, wird man zu Be¬
schlüssen gelangen, die man freiwillig nimmermehr getroffen hätte. Entsprechend
den centralistischen Gewohnheiten des Gouvernements und den Wünsche» des be¬
reits gegenwärtig zur treibenden Macht gewordnen Radicalismus wird zunächst
eine aus allen europäischen Gebietstheilen des Reichs beschickte .Commission' zur
Begutachtung eines Reformprojects einberufen werden. Von diesem Project wird
es heiße», daß es hinter deu mäßigsten Erwartungen zurückgeblieben sei, und daß
die Initiative der Regierung dem Bedürfniß und Verlangen des Volkes nicht ge¬
nüge. Ist es einmal so weit gekommen, und hat die Commission das Heft in die
Hände genommen, so findet das fernere sich von selbst, und der Kreislauf der
russischen Revolution hat thatsächlich begonnen . . . Daß die Bewegung, einmal in
Fluß gekommen, unaufhaltsam werden, und daß nach Eröffnung des russischen Par¬
lamentskraters eine revolutionäre Ueberfluthung der sarmatischen Ebene nicht ab-
zuwenden sein wird, lehrt jeder Blick auf die Verhältnisse, unter denen Alexander III.
das Reich seiner Väter überkommen hat. Die Hoffnungen der Wohlgesinnten be¬
schränken sich schon darauf, daß die kaiserliche Initiative dein weitern Vorschreiten der
innern Auflösung zuvorzukommen und für den neuen Wein neue Schläuche zu be¬
schaffen wissen werde, ehe die alten zerplatzt sind. Was man sich nnter den ,neuen
Schläuchen', in welche das russische Staatsleben gefaßt werden soll, gemeinhin denkt,
weiß der Leser. Wahrscheinlich (wir hätten gesagt, möglicherweise) theilt auch er
deu Glauben, daß mit einem großen Constitutiousschlauchc würde geholfen werden
können. Der Glaube an die Heilkraft parlamentarischer Institutionen ist ja der
einzige Glaube, der unserm Geschlechte noch geblieben zu sein scheint. (Zu viel
gesagt, wir und viele andre anßer uns, darunter offenbar auch der Verfasser, theilen
diesen Glanben durchaus nicht unbedingt.) Stellt Rußland wirklich die Probe auf
dieses Exempel an, so wird — dessen sind wir sicher, der Optimismus, der deu
landläufigen liberalen Anschauungen zu Grunde liegt, um Erfahrungen bereichert
werden, wie sie in der Welt noch nicht gemacht worden sind."

Wir möchten dem noch einiges hinzufügen. Die Franzosen waren, als sie vor
etwas mehr als neun Jahrzehnten den englischen Constitutionalismus uns ihrem
Boden anzupflanzen versuchten, eine verhältnißmcißig kleine, eine im ganzen homo-
gene und eine civilisirte Nation. Noch höher als die damaligen Franzosen standen
die Preußen, als sie vor dreiunddreißig Jahren ihr Verfassungsleben begannen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/313>, abgerufen am 23.07.2024.