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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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richten und aus den Dingen entweder gar keine oder die letzten Consequenzen zu
ziehen, wird die berathende Volksvertretung rascher, als irgend anderswo bisher
der Fall gewesen ist, sich in eine beschließende verwandeln, und je weniger die Re¬
gierung bietet, desto mehr wird genommen werden, je später man sich zu Verhand¬
lungen entschließt, desto stürmischer wird deren Verlauf sein.

Beruft man eine Versammlung, die berathen und den dabei gewonnenen Stoff
in die alten bureaukratischen Formen gießen soll, so wird entweder ein neues Argu¬
ment für die Unentbehrlichkeit einer gewaltsamen Umgestaltung geschaffen, oder die
berathende Versammlung verwandelt sich in eine Constituante. "Aehnlich würde
es zugehen, wenn man dem Rathe derjenigen folgen sollte, die von der sofortigen
Einberufung eines mit bescheidnen Vollmachten ausgestatteten russischen Parlaments
die Beseitigung des revolutionären Strebens, die Wiederherstellung des Vertrauens
und die übrigen .Segnungen der Freiheit' erwarten. Hat es sich schon gegenwärtig
unmöglich erwiesen, die über das weite Reich zerstreuten, des gehörigen Zusammen¬
hangs entbehrenden radicalen Elemente mit .gesetzlichen Mitteln' zu bändigen, haben
hundertfache Erfahrungen vielmehr gelehrt, daß es der Anwendung von Gewalt
bedarf, um in Zeiten der Erregung auch nur die Adels- und Landschaftsversamm¬
lungen der einzelnen Gouvernements an Ausschreitungen bedenklichster Art zu
hindern, so ist schlechterdings nicht abzusehen, wo die Kräfte herkommen sollen, um
einer zur Geltendmachung vou .Volksrechtew gesetzlich berufnen Versammlung russischer
Nationalvertreter (Scmski Sobor) die Wage zu halten.... Wer die russische
Presse kennt, weiß ein für alle Mal, wessen man sich von einem .freien' russischen
Parlamente zu gewärtigen hätte; er weiß, daß der großen .theoretischen Umwälzung/
welche sich seit einem Vierteljahrhundert in den russischen Köpfen vollzogen hat,
die praktische auf dem Fuße folgen würde, sobald die Pandorabüchse einmal ge¬
öffnet worden, welche im Laufe des letzten Menschenalters unaufhörlich aufgefüllt
worden ist."

Der Kaiser zögert vor diesen ihm wohlbekannten Gefahren mit der Einberufung
einer allgemeinen russischen Volksvertretung. Er entscheidet sich zuletzt vielleicht für
einen Plan, der neben den beiden obgenannten hergeht, und der vielfach mit dem
Grafen Schnwaloff in Verbindung gebracht wird. Nach demselben soll statt des
einen Vertretungskörpers, nach welchem der national-russische Liberalismus verlangt,
eine Anzahl localer Repräsentationen geschaffen werden, welche den conservativen
Elementen der Gesellschaft zu Mittelpunkten dienen und die Gefahr einer Zusammen¬
fassung der auflösenden Kräfte vermindern könnten. Der Verfasser unsrer Schrift
sagt über diesen Gedanken: "Daß die willkürlich zusammengelegten Gouvernements
von hente nicht ausreichen, um die Grundlage einer diesen Namen verdienenden
Selbstverwaltung zu bilden, hat die mit den Landschaftsinstitutionen (Semstwos)
gemachte Erfahrung sattsam bewiesen. Die centralen und die östlichen Provinzen
des Reiches haben wegen der Gleichartigkeit ihrer Verhältnisse, wegen ihrer Armuth
an Elementen, die für die Verwaltungsarbeit geeignet sind, und wegen ihrer Ab-


richten und aus den Dingen entweder gar keine oder die letzten Consequenzen zu
ziehen, wird die berathende Volksvertretung rascher, als irgend anderswo bisher
der Fall gewesen ist, sich in eine beschließende verwandeln, und je weniger die Re¬
gierung bietet, desto mehr wird genommen werden, je später man sich zu Verhand¬
lungen entschließt, desto stürmischer wird deren Verlauf sein.

Beruft man eine Versammlung, die berathen und den dabei gewonnenen Stoff
in die alten bureaukratischen Formen gießen soll, so wird entweder ein neues Argu¬
ment für die Unentbehrlichkeit einer gewaltsamen Umgestaltung geschaffen, oder die
berathende Versammlung verwandelt sich in eine Constituante. „Aehnlich würde
es zugehen, wenn man dem Rathe derjenigen folgen sollte, die von der sofortigen
Einberufung eines mit bescheidnen Vollmachten ausgestatteten russischen Parlaments
die Beseitigung des revolutionären Strebens, die Wiederherstellung des Vertrauens
und die übrigen .Segnungen der Freiheit' erwarten. Hat es sich schon gegenwärtig
unmöglich erwiesen, die über das weite Reich zerstreuten, des gehörigen Zusammen¬
hangs entbehrenden radicalen Elemente mit .gesetzlichen Mitteln' zu bändigen, haben
hundertfache Erfahrungen vielmehr gelehrt, daß es der Anwendung von Gewalt
bedarf, um in Zeiten der Erregung auch nur die Adels- und Landschaftsversamm¬
lungen der einzelnen Gouvernements an Ausschreitungen bedenklichster Art zu
hindern, so ist schlechterdings nicht abzusehen, wo die Kräfte herkommen sollen, um
einer zur Geltendmachung vou .Volksrechtew gesetzlich berufnen Versammlung russischer
Nationalvertreter (Scmski Sobor) die Wage zu halten.... Wer die russische
Presse kennt, weiß ein für alle Mal, wessen man sich von einem .freien' russischen
Parlamente zu gewärtigen hätte; er weiß, daß der großen .theoretischen Umwälzung/
welche sich seit einem Vierteljahrhundert in den russischen Köpfen vollzogen hat,
die praktische auf dem Fuße folgen würde, sobald die Pandorabüchse einmal ge¬
öffnet worden, welche im Laufe des letzten Menschenalters unaufhörlich aufgefüllt
worden ist."

Der Kaiser zögert vor diesen ihm wohlbekannten Gefahren mit der Einberufung
einer allgemeinen russischen Volksvertretung. Er entscheidet sich zuletzt vielleicht für
einen Plan, der neben den beiden obgenannten hergeht, und der vielfach mit dem
Grafen Schnwaloff in Verbindung gebracht wird. Nach demselben soll statt des
einen Vertretungskörpers, nach welchem der national-russische Liberalismus verlangt,
eine Anzahl localer Repräsentationen geschaffen werden, welche den conservativen
Elementen der Gesellschaft zu Mittelpunkten dienen und die Gefahr einer Zusammen¬
fassung der auflösenden Kräfte vermindern könnten. Der Verfasser unsrer Schrift
sagt über diesen Gedanken: „Daß die willkürlich zusammengelegten Gouvernements
von hente nicht ausreichen, um die Grundlage einer diesen Namen verdienenden
Selbstverwaltung zu bilden, hat die mit den Landschaftsinstitutionen (Semstwos)
gemachte Erfahrung sattsam bewiesen. Die centralen und die östlichen Provinzen
des Reiches haben wegen der Gleichartigkeit ihrer Verhältnisse, wegen ihrer Armuth
an Elementen, die für die Verwaltungsarbeit geeignet sind, und wegen ihrer Ab-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/310>, abgerufen am 23.07.2024.