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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Rußland und die Reform.

hängigkcit von den Regierungsorganen seit der ersten Stunde der Einrichtungen
von 1864 das Bedürfniß nach einem Centrum empfunden, an welchem ihre Dele-
girten zum Behufe gemeinsamer Thätigkeit gesammelt und in die Lage gebracht
werden könnten, ihre im einzelnen unzureichenden Kräfte zusammenzufassen. Wesent¬
lich ans diesem Bedürfnisse ist das Verlangen nach einem Scmski Sobor heraus¬
gewachsen, den zahlreiche liberale Russen sich noch jetzt als einen periodisch zusammen¬
tretender Ausschuß prvvinzialer Landschaftsdeputirten denken. Entsprechend der
gouvernementalen Gewohnheit, allenthalben und um jeden Preis zu centralisiren,
ist dabei immer nur eine alle Theile des Reiches umfassende Repräsentation ins
Auge gefaßt und von der Möglichkeit localer Centren vollständig abgesehen worden,
obgleich diese Centren im größten Theile Rußlands längst vorhanden sind. Nur
daraus, daß es dem Slaventhum an geschichtlichem Sinne gebricht, und daß es nur
eine mechanische Auffassung des Staatslebens kennt, erklärt es sich, daß man nie
daran gedacht hat, statt der Gouvernements (Regierungsbezirke) die Generalgouverne¬
ments (etwa Provinzen) zu Ausgangspunkten für ein repräsentatives System zu
machen. Diese Generalgouvernements entsprechen der ethnographischen Zusammen¬
setzung des Reiches und den geschichtlichen Antecedentien der einzelnen Theile des¬
selben fast in allen Stücken und könnten ohne Mühe in ihre frühere Bedeutung
wieder eingesetzt werden."

Als Mittelpunkt Großrußlands stellt sich Moskau dar, während Petersburg
das natürliche Centrum für die drei nördlichen Provinzen und die nordwestlichen
(Plcskau, Twer und Nowgorod) bildet, Ostrußland hat Orenburg, der weißrussisch-
lithauische Westen Wtlna, Kleinrußland Kiew zur Hauptstadt, die Metropole Neu¬
rußlands ist Odessa, die Ostseeprovinzen Liv-, Esth- und Kurland haben ein halbes
Jahrhundert hindurch das von Riga aus verwaltete baltische Generalgouvernement
gebildet, für Polen wäre Warschau die einzig mögliche Hauptstadt, Was läge näher,
als Wiederherstellung jener Einheiten mit Hinzufügung der außerhalb der General¬
gouvernements-Bezirke verblichnen Provinzen? "Ohne daß es einer Anstrengung
bedürfte, würde sich auf solche Weise das Zusammengehörige zu gemeinsamer Arbeit
zusammenfinden. Den gesund gebliebner Volkselementen wäre die Gelegenheit ge¬
boten, ihre praktischen Bedürfnisse zur Geltung zu bringen, häusliche Angelegen¬
heiten friedlich zu ordnen, locale Beschwerden ohne Inanspruchnahme des großen
Reiches zu erledigen, ihre Kräfte auf greifbare Ziele zu richten; die Regierung aber
hätte den ungeheuren Vortheil, die von den nihilistischen Umtrieben unberührt ge¬
bliebner Theile des Reiches vollständig auf ihrer Seite und zu ihrer Verfügung
zu haben und dem Radicalismus die Gelegenheit zur Zusammenfassung seiner Streit¬
kräfte und zur Aufführung eines verfassnngmäßigen Bollwerks seiner Ungestraftheit
genommen zu sehen. In einer Ccntralverscnmnlung würden sich der conservative
Theil des großrussischen Adels, das deutsche Element der Ostseeprovinzen, die ein¬
sichtigen Polen der ehemaligen Wielopolskischen Partei wie Tropfen im Meere ver¬
lieren, die bestimmbaren und begehrlichen Elemente aus allen Theilen des Reiches


Rußland und die Reform.

hängigkcit von den Regierungsorganen seit der ersten Stunde der Einrichtungen
von 1864 das Bedürfniß nach einem Centrum empfunden, an welchem ihre Dele-
girten zum Behufe gemeinsamer Thätigkeit gesammelt und in die Lage gebracht
werden könnten, ihre im einzelnen unzureichenden Kräfte zusammenzufassen. Wesent¬
lich ans diesem Bedürfnisse ist das Verlangen nach einem Scmski Sobor heraus¬
gewachsen, den zahlreiche liberale Russen sich noch jetzt als einen periodisch zusammen¬
tretender Ausschuß prvvinzialer Landschaftsdeputirten denken. Entsprechend der
gouvernementalen Gewohnheit, allenthalben und um jeden Preis zu centralisiren,
ist dabei immer nur eine alle Theile des Reiches umfassende Repräsentation ins
Auge gefaßt und von der Möglichkeit localer Centren vollständig abgesehen worden,
obgleich diese Centren im größten Theile Rußlands längst vorhanden sind. Nur
daraus, daß es dem Slaventhum an geschichtlichem Sinne gebricht, und daß es nur
eine mechanische Auffassung des Staatslebens kennt, erklärt es sich, daß man nie
daran gedacht hat, statt der Gouvernements (Regierungsbezirke) die Generalgouverne¬
ments (etwa Provinzen) zu Ausgangspunkten für ein repräsentatives System zu
machen. Diese Generalgouvernements entsprechen der ethnographischen Zusammen¬
setzung des Reiches und den geschichtlichen Antecedentien der einzelnen Theile des¬
selben fast in allen Stücken und könnten ohne Mühe in ihre frühere Bedeutung
wieder eingesetzt werden."

Als Mittelpunkt Großrußlands stellt sich Moskau dar, während Petersburg
das natürliche Centrum für die drei nördlichen Provinzen und die nordwestlichen
(Plcskau, Twer und Nowgorod) bildet, Ostrußland hat Orenburg, der weißrussisch-
lithauische Westen Wtlna, Kleinrußland Kiew zur Hauptstadt, die Metropole Neu¬
rußlands ist Odessa, die Ostseeprovinzen Liv-, Esth- und Kurland haben ein halbes
Jahrhundert hindurch das von Riga aus verwaltete baltische Generalgouvernement
gebildet, für Polen wäre Warschau die einzig mögliche Hauptstadt, Was läge näher,
als Wiederherstellung jener Einheiten mit Hinzufügung der außerhalb der General¬
gouvernements-Bezirke verblichnen Provinzen? „Ohne daß es einer Anstrengung
bedürfte, würde sich auf solche Weise das Zusammengehörige zu gemeinsamer Arbeit
zusammenfinden. Den gesund gebliebner Volkselementen wäre die Gelegenheit ge¬
boten, ihre praktischen Bedürfnisse zur Geltung zu bringen, häusliche Angelegen¬
heiten friedlich zu ordnen, locale Beschwerden ohne Inanspruchnahme des großen
Reiches zu erledigen, ihre Kräfte auf greifbare Ziele zu richten; die Regierung aber
hätte den ungeheuren Vortheil, die von den nihilistischen Umtrieben unberührt ge¬
bliebner Theile des Reiches vollständig auf ihrer Seite und zu ihrer Verfügung
zu haben und dem Radicalismus die Gelegenheit zur Zusammenfassung seiner Streit¬
kräfte und zur Aufführung eines verfassnngmäßigen Bollwerks seiner Ungestraftheit
genommen zu sehen. In einer Ccntralverscnmnlung würden sich der conservative
Theil des großrussischen Adels, das deutsche Element der Ostseeprovinzen, die ein¬
sichtigen Polen der ehemaligen Wielopolskischen Partei wie Tropfen im Meere ver¬
lieren, die bestimmbaren und begehrlichen Elemente aus allen Theilen des Reiches


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[0311] Rußland und die Reform. hängigkcit von den Regierungsorganen seit der ersten Stunde der Einrichtungen von 1864 das Bedürfniß nach einem Centrum empfunden, an welchem ihre Dele- girten zum Behufe gemeinsamer Thätigkeit gesammelt und in die Lage gebracht werden könnten, ihre im einzelnen unzureichenden Kräfte zusammenzufassen. Wesent¬ lich ans diesem Bedürfnisse ist das Verlangen nach einem Scmski Sobor heraus¬ gewachsen, den zahlreiche liberale Russen sich noch jetzt als einen periodisch zusammen¬ tretender Ausschuß prvvinzialer Landschaftsdeputirten denken. Entsprechend der gouvernementalen Gewohnheit, allenthalben und um jeden Preis zu centralisiren, ist dabei immer nur eine alle Theile des Reiches umfassende Repräsentation ins Auge gefaßt und von der Möglichkeit localer Centren vollständig abgesehen worden, obgleich diese Centren im größten Theile Rußlands längst vorhanden sind. Nur daraus, daß es dem Slaventhum an geschichtlichem Sinne gebricht, und daß es nur eine mechanische Auffassung des Staatslebens kennt, erklärt es sich, daß man nie daran gedacht hat, statt der Gouvernements (Regierungsbezirke) die Generalgouverne¬ ments (etwa Provinzen) zu Ausgangspunkten für ein repräsentatives System zu machen. Diese Generalgouvernements entsprechen der ethnographischen Zusammen¬ setzung des Reiches und den geschichtlichen Antecedentien der einzelnen Theile des¬ selben fast in allen Stücken und könnten ohne Mühe in ihre frühere Bedeutung wieder eingesetzt werden." Als Mittelpunkt Großrußlands stellt sich Moskau dar, während Petersburg das natürliche Centrum für die drei nördlichen Provinzen und die nordwestlichen (Plcskau, Twer und Nowgorod) bildet, Ostrußland hat Orenburg, der weißrussisch- lithauische Westen Wtlna, Kleinrußland Kiew zur Hauptstadt, die Metropole Neu¬ rußlands ist Odessa, die Ostseeprovinzen Liv-, Esth- und Kurland haben ein halbes Jahrhundert hindurch das von Riga aus verwaltete baltische Generalgouvernement gebildet, für Polen wäre Warschau die einzig mögliche Hauptstadt, Was läge näher, als Wiederherstellung jener Einheiten mit Hinzufügung der außerhalb der General¬ gouvernements-Bezirke verblichnen Provinzen? „Ohne daß es einer Anstrengung bedürfte, würde sich auf solche Weise das Zusammengehörige zu gemeinsamer Arbeit zusammenfinden. Den gesund gebliebner Volkselementen wäre die Gelegenheit ge¬ boten, ihre praktischen Bedürfnisse zur Geltung zu bringen, häusliche Angelegen¬ heiten friedlich zu ordnen, locale Beschwerden ohne Inanspruchnahme des großen Reiches zu erledigen, ihre Kräfte auf greifbare Ziele zu richten; die Regierung aber hätte den ungeheuren Vortheil, die von den nihilistischen Umtrieben unberührt ge¬ bliebner Theile des Reiches vollständig auf ihrer Seite und zu ihrer Verfügung zu haben und dem Radicalismus die Gelegenheit zur Zusammenfassung seiner Streit¬ kräfte und zur Aufführung eines verfassnngmäßigen Bollwerks seiner Ungestraftheit genommen zu sehen. In einer Ccntralverscnmnlung würden sich der conservative Theil des großrussischen Adels, das deutsche Element der Ostseeprovinzen, die ein¬ sichtigen Polen der ehemaligen Wielopolskischen Partei wie Tropfen im Meere ver¬ lieren, die bestimmbaren und begehrlichen Elemente aus allen Theilen des Reiches

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/311>, abgerufen am 23.07.2024.