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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Rußland und die Reform,

ersetzt werden, wo von Reformen keine Rede mehr sein würde. Am 29, April
habe wieder ein Ministerrath stattgefunden, dem der Kaiser und mehrere Mitglieder
seiner Familie beigewohnt hätten, und in welchem über drei "Pacificationsprvjecte"
verschiedener Art Beschluß gefaßt worden sei. Das erste derselben verlange kurz
und rund Unterdrückung der verbrecherischen Thätigkeit der socialistischen Revolu¬
tionäre ohne irgendwelche liberale Reformen, Das zweite schlage vor, unverzüglich
ziemlich weitgehende Reformen dieser Art ins Leben zu rufen und die Reprcssiv-
maßregeln zu unterbrechen, um die Wirkung der Reformen abzuwarten. Würde
trotzdem das Treiben der Nihilisten fortdauern, so solle zu schärfster Reaction über¬
gegangen werden. Das dritte Project endlich beantrage: gegen die nihilistische
Bewegung mit äußerster Strenge vorzugehen, zugleich aber den Wünschen des
bessern Theils des Volkes, sowie den wirklichen Verhältnissen Rechnung zu tragen
und sofort zur Verwirklichung der vom verstorbnen Kaiser beabsichtigten liberalen
Maßnahmen zu schreiten.

Wir geben zunächst kein eignes Urtheil über die Frage ab, ob überhaupt und
wie weit in Rußland Reformen constitutioneller Art ohne Schaden möglich sind
und voraussichtlich nutzen und dein nihilistischen Treiben ein Ende bereiten würden.
Wir wollen zunächst einem guten Kenner der russischen Verhältnisse das Wort
verstatten. Der Schrift "Aus der Petersburger Gesellschaft" und der "Neuen Folge"
dieses vielbesprochnen Buches ist soeben unter dein Titel "Von Nikolaus I. zu
Alexander III., Se. Petersburger Beiträge zur neuesten russischen Geschichte"
(Leipzig, Duncker ^ Humblot) ein neues Werk des außerordentlich fleißigen Ver¬
fassers gefolgt, das theils Episoden aus der Geschichte Rußlands im letzten halben
Jahrhundert (Allerlei aus der "dritten Abtheilung," die Petraschewskische Ver¬
schwörung von 1343 und 1849, die russische Emigration in London 1352 bis
1364 u. a,), theils geheime russische Denkschriften enthält und mit einer Charakteristik
des jetzigen Zaren und der gegenwärtigen Zustände Rußlands mit Hinblicken auf
die dort und anderwärts gehegten Wünsche nach Reformen schließt, die wir im
wesentlichen folgen lassen.

Keiner der seit dein Tode Peters des Großen auf den russischen Thron ge¬
langten Söhne des Hauses Holstein-Gvttorp-Romanoff hat eine so große Summe
tüchtiger sittlicher Eigenschaften und einen solchen Schatz von Erfahrungen mitgebracht,
wie der sechsunddreißigjährige Alexander III. Mit der Energie seines Großvaters
Nikolaus verbindet der junge Monarch den humanen Sinn seines Vaters, Die
Unsträflichkeit des Privatlebens, die ihm nachgerühmt wird, hat er vor allen seinen
Vorgängern voraus. Der durch dasselbe bethätigte sittliche Ernst ist ebenso sein
freier Erlverb wie die Tüchtigkeit, die er als Heerführer, und die Gewissenhaftig¬
keit, die er als Administrator bewiesen hat. In einer Zeit schwerer Erschütterungen
und Umwälzungen der bestehenden Ordnung zum Manne gereift und schon als
Jüngling zur Theilnahme an den großen Geschäften zugelassen, ist Alexander früher
ein wirklicher Mann geworden, als bei den Mitgliedern seiner Familie sonst üblich


Rußland und die Reform,

ersetzt werden, wo von Reformen keine Rede mehr sein würde. Am 29, April
habe wieder ein Ministerrath stattgefunden, dem der Kaiser und mehrere Mitglieder
seiner Familie beigewohnt hätten, und in welchem über drei „Pacificationsprvjecte"
verschiedener Art Beschluß gefaßt worden sei. Das erste derselben verlange kurz
und rund Unterdrückung der verbrecherischen Thätigkeit der socialistischen Revolu¬
tionäre ohne irgendwelche liberale Reformen, Das zweite schlage vor, unverzüglich
ziemlich weitgehende Reformen dieser Art ins Leben zu rufen und die Reprcssiv-
maßregeln zu unterbrechen, um die Wirkung der Reformen abzuwarten. Würde
trotzdem das Treiben der Nihilisten fortdauern, so solle zu schärfster Reaction über¬
gegangen werden. Das dritte Project endlich beantrage: gegen die nihilistische
Bewegung mit äußerster Strenge vorzugehen, zugleich aber den Wünschen des
bessern Theils des Volkes, sowie den wirklichen Verhältnissen Rechnung zu tragen
und sofort zur Verwirklichung der vom verstorbnen Kaiser beabsichtigten liberalen
Maßnahmen zu schreiten.

Wir geben zunächst kein eignes Urtheil über die Frage ab, ob überhaupt und
wie weit in Rußland Reformen constitutioneller Art ohne Schaden möglich sind
und voraussichtlich nutzen und dein nihilistischen Treiben ein Ende bereiten würden.
Wir wollen zunächst einem guten Kenner der russischen Verhältnisse das Wort
verstatten. Der Schrift „Aus der Petersburger Gesellschaft" und der „Neuen Folge"
dieses vielbesprochnen Buches ist soeben unter dein Titel „Von Nikolaus I. zu
Alexander III., Se. Petersburger Beiträge zur neuesten russischen Geschichte"
(Leipzig, Duncker ^ Humblot) ein neues Werk des außerordentlich fleißigen Ver¬
fassers gefolgt, das theils Episoden aus der Geschichte Rußlands im letzten halben
Jahrhundert (Allerlei aus der „dritten Abtheilung," die Petraschewskische Ver¬
schwörung von 1343 und 1849, die russische Emigration in London 1352 bis
1364 u. a,), theils geheime russische Denkschriften enthält und mit einer Charakteristik
des jetzigen Zaren und der gegenwärtigen Zustände Rußlands mit Hinblicken auf
die dort und anderwärts gehegten Wünsche nach Reformen schließt, die wir im
wesentlichen folgen lassen.

Keiner der seit dein Tode Peters des Großen auf den russischen Thron ge¬
langten Söhne des Hauses Holstein-Gvttorp-Romanoff hat eine so große Summe
tüchtiger sittlicher Eigenschaften und einen solchen Schatz von Erfahrungen mitgebracht,
wie der sechsunddreißigjährige Alexander III. Mit der Energie seines Großvaters
Nikolaus verbindet der junge Monarch den humanen Sinn seines Vaters, Die
Unsträflichkeit des Privatlebens, die ihm nachgerühmt wird, hat er vor allen seinen
Vorgängern voraus. Der durch dasselbe bethätigte sittliche Ernst ist ebenso sein
freier Erlverb wie die Tüchtigkeit, die er als Heerführer, und die Gewissenhaftig¬
keit, die er als Administrator bewiesen hat. In einer Zeit schwerer Erschütterungen
und Umwälzungen der bestehenden Ordnung zum Manne gereift und schon als
Jüngling zur Theilnahme an den großen Geschäften zugelassen, ist Alexander früher
ein wirklicher Mann geworden, als bei den Mitgliedern seiner Familie sonst üblich


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[0305] Rußland und die Reform, ersetzt werden, wo von Reformen keine Rede mehr sein würde. Am 29, April habe wieder ein Ministerrath stattgefunden, dem der Kaiser und mehrere Mitglieder seiner Familie beigewohnt hätten, und in welchem über drei „Pacificationsprvjecte" verschiedener Art Beschluß gefaßt worden sei. Das erste derselben verlange kurz und rund Unterdrückung der verbrecherischen Thätigkeit der socialistischen Revolu¬ tionäre ohne irgendwelche liberale Reformen, Das zweite schlage vor, unverzüglich ziemlich weitgehende Reformen dieser Art ins Leben zu rufen und die Reprcssiv- maßregeln zu unterbrechen, um die Wirkung der Reformen abzuwarten. Würde trotzdem das Treiben der Nihilisten fortdauern, so solle zu schärfster Reaction über¬ gegangen werden. Das dritte Project endlich beantrage: gegen die nihilistische Bewegung mit äußerster Strenge vorzugehen, zugleich aber den Wünschen des bessern Theils des Volkes, sowie den wirklichen Verhältnissen Rechnung zu tragen und sofort zur Verwirklichung der vom verstorbnen Kaiser beabsichtigten liberalen Maßnahmen zu schreiten. Wir geben zunächst kein eignes Urtheil über die Frage ab, ob überhaupt und wie weit in Rußland Reformen constitutioneller Art ohne Schaden möglich sind und voraussichtlich nutzen und dein nihilistischen Treiben ein Ende bereiten würden. Wir wollen zunächst einem guten Kenner der russischen Verhältnisse das Wort verstatten. Der Schrift „Aus der Petersburger Gesellschaft" und der „Neuen Folge" dieses vielbesprochnen Buches ist soeben unter dein Titel „Von Nikolaus I. zu Alexander III., Se. Petersburger Beiträge zur neuesten russischen Geschichte" (Leipzig, Duncker ^ Humblot) ein neues Werk des außerordentlich fleißigen Ver¬ fassers gefolgt, das theils Episoden aus der Geschichte Rußlands im letzten halben Jahrhundert (Allerlei aus der „dritten Abtheilung," die Petraschewskische Ver¬ schwörung von 1343 und 1849, die russische Emigration in London 1352 bis 1364 u. a,), theils geheime russische Denkschriften enthält und mit einer Charakteristik des jetzigen Zaren und der gegenwärtigen Zustände Rußlands mit Hinblicken auf die dort und anderwärts gehegten Wünsche nach Reformen schließt, die wir im wesentlichen folgen lassen. Keiner der seit dein Tode Peters des Großen auf den russischen Thron ge¬ langten Söhne des Hauses Holstein-Gvttorp-Romanoff hat eine so große Summe tüchtiger sittlicher Eigenschaften und einen solchen Schatz von Erfahrungen mitgebracht, wie der sechsunddreißigjährige Alexander III. Mit der Energie seines Großvaters Nikolaus verbindet der junge Monarch den humanen Sinn seines Vaters, Die Unsträflichkeit des Privatlebens, die ihm nachgerühmt wird, hat er vor allen seinen Vorgängern voraus. Der durch dasselbe bethätigte sittliche Ernst ist ebenso sein freier Erlverb wie die Tüchtigkeit, die er als Heerführer, und die Gewissenhaftig¬ keit, die er als Administrator bewiesen hat. In einer Zeit schwerer Erschütterungen und Umwälzungen der bestehenden Ordnung zum Manne gereift und schon als Jüngling zur Theilnahme an den großen Geschäften zugelassen, ist Alexander früher ein wirklicher Mann geworden, als bei den Mitgliedern seiner Familie sonst üblich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/305>, abgerufen am 23.07.2024.