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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Der Streit um Tunis.

streben muß." Die Negierung, die nicht unverantwortlich wie die Presse ist, hat nach
der "Agence Havas" den Franzosen gegenüber "eine versöhnliche Haltung ange¬
nommen." Was man sich für mögliche zukünftige Fälle vorbehält, wissen wir nicht;
gewiß ist nur, daß man für die Gegenwart seine Hand aus dein Spiele lassen wird.

Auch England wird, selbst im Falle einer Annexion von Tunis durch die
Franzosen, schwerlich viel thun. Die quäkerische Politik Gladstones wird an sich
nichts wagen, und sie ist durch Mißlingen ihrer Pläne fast um allen Orten
überdies gewarnt, weitres zu unternehmen. Auch die öffentliche Meinung, soweit
sie sich in den Zeitungen ausdrückt, ist nicht besonders erregt von dem Vorgehen
der Nachbarn jenseits des Canals. Sie lebt sich täglich mehr in die bloße Zu¬
schauerrolle bei der tunesischen Verwicklung ein und wirft die alte Politik ge¬
lassen über Bord. Noch vor kurzem hörte man hier die feierliche Erklärung,
daß England eine Mittelmeermacht sei, daß seine Wasserstraße zwischen Sieilien
und Tunis durchführe, und daß folglich der Streit zwischen letztrem und Frank¬
reich eine Lebensfrage für Großbritannien involvire. Wenige Tage nachher be¬
hauptete die "Times" ungefähr das Gegentheil. "Die Franzosen," erklärte sie,
"haben gänzlich Unrecht, wenn sie annehmen, daß England die französische Politik
an der afrikanischen Mittelmecrkliste mit eifersüchtigen Blicken überwache. Die
englischen Interessen in Aegypten sind klar und deutlich und müssen um jeden
Preis gefördert werden. Aber von Tripolis bis nach Marokko hat unser Land
sich nicht um die politischen Schicksale dieser Gegenden zu kümmern." Das klingt
ganz wie eine Paraphrase des Grundsatzes, den Lord Salisbury vor drei Jahren
während des Berliner Congresses gegenüber dem französischen Minister Waddingtou
aussprach: "Selbst der Sturz der Regierung des Bey würde kaum ein englisches
Dazwischentreten herbeiführen." Sonst begegnen wir in den englischen Blättern
meist nur akademischen Betrachtungen der Rechtsfrage, platonischen Bedauern,
daß Frankreich einseitig vorgehe, die Suzeränität des Sultans nicht achte, ohne
Kriegserklärung die Forts auf der Insel Tabarka bombardire und tgi., und
wenn der "Daily Telegraph" wissen wollte, daß England jeden Versuch Frank¬
reichs, den stAtus ano im nördlichen Afrika dauernd zu verrücken, "mit Ungunst
ansehen und deshalb alle vernünftigen und friedlichen Mittel anwenden werde,
um dasselbe von der Einverleibung oder der Schutzherrschaft abzuschrecken," so
klang das recht zahm und bedeutungslos.

Die Meinung in Frankreich, vielleicht mit Einschluß derjenigen der Regierung,
scheint ein Artikel des "Paix" annähernd auszudrücken, und wir stehen nicht an,
seinen Aeußerungen beizustimmen. "Es handelt sich," sagt das Blatt, "um die
Sicherstellung Algeriens. Da der Bey nicht imstande ist, an seiner Grenze
die Ordnung zu erhalten, so müssen wir selber diese Aufgabe übernehmen. Wenn


Der Streit um Tunis.

streben muß." Die Negierung, die nicht unverantwortlich wie die Presse ist, hat nach
der „Agence Havas" den Franzosen gegenüber „eine versöhnliche Haltung ange¬
nommen." Was man sich für mögliche zukünftige Fälle vorbehält, wissen wir nicht;
gewiß ist nur, daß man für die Gegenwart seine Hand aus dein Spiele lassen wird.

Auch England wird, selbst im Falle einer Annexion von Tunis durch die
Franzosen, schwerlich viel thun. Die quäkerische Politik Gladstones wird an sich
nichts wagen, und sie ist durch Mißlingen ihrer Pläne fast um allen Orten
überdies gewarnt, weitres zu unternehmen. Auch die öffentliche Meinung, soweit
sie sich in den Zeitungen ausdrückt, ist nicht besonders erregt von dem Vorgehen
der Nachbarn jenseits des Canals. Sie lebt sich täglich mehr in die bloße Zu¬
schauerrolle bei der tunesischen Verwicklung ein und wirft die alte Politik ge¬
lassen über Bord. Noch vor kurzem hörte man hier die feierliche Erklärung,
daß England eine Mittelmeermacht sei, daß seine Wasserstraße zwischen Sieilien
und Tunis durchführe, und daß folglich der Streit zwischen letztrem und Frank¬
reich eine Lebensfrage für Großbritannien involvire. Wenige Tage nachher be¬
hauptete die „Times" ungefähr das Gegentheil. „Die Franzosen," erklärte sie,
„haben gänzlich Unrecht, wenn sie annehmen, daß England die französische Politik
an der afrikanischen Mittelmecrkliste mit eifersüchtigen Blicken überwache. Die
englischen Interessen in Aegypten sind klar und deutlich und müssen um jeden
Preis gefördert werden. Aber von Tripolis bis nach Marokko hat unser Land
sich nicht um die politischen Schicksale dieser Gegenden zu kümmern." Das klingt
ganz wie eine Paraphrase des Grundsatzes, den Lord Salisbury vor drei Jahren
während des Berliner Congresses gegenüber dem französischen Minister Waddingtou
aussprach: „Selbst der Sturz der Regierung des Bey würde kaum ein englisches
Dazwischentreten herbeiführen." Sonst begegnen wir in den englischen Blättern
meist nur akademischen Betrachtungen der Rechtsfrage, platonischen Bedauern,
daß Frankreich einseitig vorgehe, die Suzeränität des Sultans nicht achte, ohne
Kriegserklärung die Forts auf der Insel Tabarka bombardire und tgi., und
wenn der „Daily Telegraph" wissen wollte, daß England jeden Versuch Frank¬
reichs, den stAtus ano im nördlichen Afrika dauernd zu verrücken, „mit Ungunst
ansehen und deshalb alle vernünftigen und friedlichen Mittel anwenden werde,
um dasselbe von der Einverleibung oder der Schutzherrschaft abzuschrecken," so
klang das recht zahm und bedeutungslos.

Die Meinung in Frankreich, vielleicht mit Einschluß derjenigen der Regierung,
scheint ein Artikel des „Paix" annähernd auszudrücken, und wir stehen nicht an,
seinen Aeußerungen beizustimmen. „Es handelt sich," sagt das Blatt, „um die
Sicherstellung Algeriens. Da der Bey nicht imstande ist, an seiner Grenze
die Ordnung zu erhalten, so müssen wir selber diese Aufgabe übernehmen. Wenn


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[0270] Der Streit um Tunis. streben muß." Die Negierung, die nicht unverantwortlich wie die Presse ist, hat nach der „Agence Havas" den Franzosen gegenüber „eine versöhnliche Haltung ange¬ nommen." Was man sich für mögliche zukünftige Fälle vorbehält, wissen wir nicht; gewiß ist nur, daß man für die Gegenwart seine Hand aus dein Spiele lassen wird. Auch England wird, selbst im Falle einer Annexion von Tunis durch die Franzosen, schwerlich viel thun. Die quäkerische Politik Gladstones wird an sich nichts wagen, und sie ist durch Mißlingen ihrer Pläne fast um allen Orten überdies gewarnt, weitres zu unternehmen. Auch die öffentliche Meinung, soweit sie sich in den Zeitungen ausdrückt, ist nicht besonders erregt von dem Vorgehen der Nachbarn jenseits des Canals. Sie lebt sich täglich mehr in die bloße Zu¬ schauerrolle bei der tunesischen Verwicklung ein und wirft die alte Politik ge¬ lassen über Bord. Noch vor kurzem hörte man hier die feierliche Erklärung, daß England eine Mittelmeermacht sei, daß seine Wasserstraße zwischen Sieilien und Tunis durchführe, und daß folglich der Streit zwischen letztrem und Frank¬ reich eine Lebensfrage für Großbritannien involvire. Wenige Tage nachher be¬ hauptete die „Times" ungefähr das Gegentheil. „Die Franzosen," erklärte sie, „haben gänzlich Unrecht, wenn sie annehmen, daß England die französische Politik an der afrikanischen Mittelmecrkliste mit eifersüchtigen Blicken überwache. Die englischen Interessen in Aegypten sind klar und deutlich und müssen um jeden Preis gefördert werden. Aber von Tripolis bis nach Marokko hat unser Land sich nicht um die politischen Schicksale dieser Gegenden zu kümmern." Das klingt ganz wie eine Paraphrase des Grundsatzes, den Lord Salisbury vor drei Jahren während des Berliner Congresses gegenüber dem französischen Minister Waddingtou aussprach: „Selbst der Sturz der Regierung des Bey würde kaum ein englisches Dazwischentreten herbeiführen." Sonst begegnen wir in den englischen Blättern meist nur akademischen Betrachtungen der Rechtsfrage, platonischen Bedauern, daß Frankreich einseitig vorgehe, die Suzeränität des Sultans nicht achte, ohne Kriegserklärung die Forts auf der Insel Tabarka bombardire und tgi., und wenn der „Daily Telegraph" wissen wollte, daß England jeden Versuch Frank¬ reichs, den stAtus ano im nördlichen Afrika dauernd zu verrücken, „mit Ungunst ansehen und deshalb alle vernünftigen und friedlichen Mittel anwenden werde, um dasselbe von der Einverleibung oder der Schutzherrschaft abzuschrecken," so klang das recht zahm und bedeutungslos. Die Meinung in Frankreich, vielleicht mit Einschluß derjenigen der Regierung, scheint ein Artikel des „Paix" annähernd auszudrücken, und wir stehen nicht an, seinen Aeußerungen beizustimmen. „Es handelt sich," sagt das Blatt, „um die Sicherstellung Algeriens. Da der Bey nicht imstande ist, an seiner Grenze die Ordnung zu erhalten, so müssen wir selber diese Aufgabe übernehmen. Wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/270>, abgerufen am 05.02.2025.