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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Politische Briefe.

will der fortschrittliche Liberalismus, daß die parlamentarische Bühne vom Oe-
tober bis Mai aufgeschlagen sei, und daß die Regierung in den Sommermonaten
arbeite, während der fröhliche Parlamentarier sich in den Bädern tummelt und -
das Recht hat, die Regierung zu schelten, wenn sie im October nicht ein voll-
gewognes, tadelloses Pensum vorlegt. Aber zur Ausarbeitung der Vorlagen
gehört der ganze Regierungsapparat, das Zusammenwirken aller Beamten; wenn
mich mir einige derselben im Sommer des Urlaubs bedürfen, ist die Herstellung
der Vorlagen erschwert oder unmöglich.

Gelänge es, die Parlamentssession auf die einzig richtige Zeit, die ersten
sechs Monate des Jahres, für beide Parlamente zu verlegen, so wäre freilich
immer noch nicht das Problem gelöst, wie anch in diesen günstig gelegenen sechs
Monaten das parlamentarische Pensum zu erledigen sei bei der unglücklichen Be¬
schränkung jedes Parlaments auf 3--Monate. Dazu würde noch die Be¬
seitigung einer andern, gedankenlos vom Auslande zu uns verpflanzten Einrichtung
gehören. Die Disevutimütät der Sessionen innerhalb der Legislaturperiode
müßte aufhören, die Legislaturperiode müßte als eine, nur durch Vertagungen
nuterbrochne Session gedacht werden, Dann könnten die Commissionsberichte
innerhalb der Legislaturperiode von einem Jahr auf das andre übergehen, dann
könnten die Commissionen für die ganze Legislaturperiode gebildet werden, dann
könnten die Commissionen nöthigenfalls während der Vertagung des Reichstags
nud des Landtags arbeiten. Der Gewinn für die Arbeit läge auf der Hand,
Ein paar aus den jetzigen Vorschriften sich ergebende Schwierigkeiten wären
kinderleicht ohne Nachtheil zu beseitigen. Die Vorschrift, daß abgekehrte An¬
träge in derselben Session nicht wiederkehren dürfen, wäre durch die Vorschrift
zu ersetzen, daß sie vor 6 Monaten nicht wiederholt werden dürfen, es sei denn
nach Stellung der Vorfrage, welche an die Regierung zu richten wäre bei Par-
lamentsantrügcn, welche erstere abgelehnt hat, an das Parlament bei Anträgen,
welche, ob ans seiner Mitte oder von der Regierung eingebracht, von ersterm
abgelehnt sind.

Es giebt also für ein einigermaßen freies und bewegliches Denken mehr
als einen Ausweg aus der kläglichen Unbeholfenheit der bloßen Formalien unsres
Parlamentarismus. Aber freilich: ein freies und bewegliches Denken, das ist
es gerade, was unsern Parlamentariern bis auf den letzten Tropfen abhanden
gekommen ist.

Der erste Tag der zweiten Berathung der zweijährigen Vudgctperiode brachte
eine Rede des Fürsten Bismarck, welche mit einer persönlichen Anrufung an
Herrn von Bemiigsen schloß, wie sie der Reichskanzler noch nie hat ergehen lassen.
Der Reichskanzler hatte nicht wissen können, ob und was Herr von Bemiigsen


Politische Briefe.

will der fortschrittliche Liberalismus, daß die parlamentarische Bühne vom Oe-
tober bis Mai aufgeschlagen sei, und daß die Regierung in den Sommermonaten
arbeite, während der fröhliche Parlamentarier sich in den Bädern tummelt und -
das Recht hat, die Regierung zu schelten, wenn sie im October nicht ein voll-
gewognes, tadelloses Pensum vorlegt. Aber zur Ausarbeitung der Vorlagen
gehört der ganze Regierungsapparat, das Zusammenwirken aller Beamten; wenn
mich mir einige derselben im Sommer des Urlaubs bedürfen, ist die Herstellung
der Vorlagen erschwert oder unmöglich.

Gelänge es, die Parlamentssession auf die einzig richtige Zeit, die ersten
sechs Monate des Jahres, für beide Parlamente zu verlegen, so wäre freilich
immer noch nicht das Problem gelöst, wie anch in diesen günstig gelegenen sechs
Monaten das parlamentarische Pensum zu erledigen sei bei der unglücklichen Be¬
schränkung jedes Parlaments auf 3—Monate. Dazu würde noch die Be¬
seitigung einer andern, gedankenlos vom Auslande zu uns verpflanzten Einrichtung
gehören. Die Disevutimütät der Sessionen innerhalb der Legislaturperiode
müßte aufhören, die Legislaturperiode müßte als eine, nur durch Vertagungen
nuterbrochne Session gedacht werden, Dann könnten die Commissionsberichte
innerhalb der Legislaturperiode von einem Jahr auf das andre übergehen, dann
könnten die Commissionen für die ganze Legislaturperiode gebildet werden, dann
könnten die Commissionen nöthigenfalls während der Vertagung des Reichstags
nud des Landtags arbeiten. Der Gewinn für die Arbeit läge auf der Hand,
Ein paar aus den jetzigen Vorschriften sich ergebende Schwierigkeiten wären
kinderleicht ohne Nachtheil zu beseitigen. Die Vorschrift, daß abgekehrte An¬
träge in derselben Session nicht wiederkehren dürfen, wäre durch die Vorschrift
zu ersetzen, daß sie vor 6 Monaten nicht wiederholt werden dürfen, es sei denn
nach Stellung der Vorfrage, welche an die Regierung zu richten wäre bei Par-
lamentsantrügcn, welche erstere abgelehnt hat, an das Parlament bei Anträgen,
welche, ob ans seiner Mitte oder von der Regierung eingebracht, von ersterm
abgelehnt sind.

Es giebt also für ein einigermaßen freies und bewegliches Denken mehr
als einen Ausweg aus der kläglichen Unbeholfenheit der bloßen Formalien unsres
Parlamentarismus. Aber freilich: ein freies und bewegliches Denken, das ist
es gerade, was unsern Parlamentariern bis auf den letzten Tropfen abhanden
gekommen ist.

Der erste Tag der zweiten Berathung der zweijährigen Vudgctperiode brachte
eine Rede des Fürsten Bismarck, welche mit einer persönlichen Anrufung an
Herrn von Bemiigsen schloß, wie sie der Reichskanzler noch nie hat ergehen lassen.
Der Reichskanzler hatte nicht wissen können, ob und was Herr von Bemiigsen


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[0258] Politische Briefe. will der fortschrittliche Liberalismus, daß die parlamentarische Bühne vom Oe- tober bis Mai aufgeschlagen sei, und daß die Regierung in den Sommermonaten arbeite, während der fröhliche Parlamentarier sich in den Bädern tummelt und - das Recht hat, die Regierung zu schelten, wenn sie im October nicht ein voll- gewognes, tadelloses Pensum vorlegt. Aber zur Ausarbeitung der Vorlagen gehört der ganze Regierungsapparat, das Zusammenwirken aller Beamten; wenn mich mir einige derselben im Sommer des Urlaubs bedürfen, ist die Herstellung der Vorlagen erschwert oder unmöglich. Gelänge es, die Parlamentssession auf die einzig richtige Zeit, die ersten sechs Monate des Jahres, für beide Parlamente zu verlegen, so wäre freilich immer noch nicht das Problem gelöst, wie anch in diesen günstig gelegenen sechs Monaten das parlamentarische Pensum zu erledigen sei bei der unglücklichen Be¬ schränkung jedes Parlaments auf 3—Monate. Dazu würde noch die Be¬ seitigung einer andern, gedankenlos vom Auslande zu uns verpflanzten Einrichtung gehören. Die Disevutimütät der Sessionen innerhalb der Legislaturperiode müßte aufhören, die Legislaturperiode müßte als eine, nur durch Vertagungen nuterbrochne Session gedacht werden, Dann könnten die Commissionsberichte innerhalb der Legislaturperiode von einem Jahr auf das andre übergehen, dann könnten die Commissionen für die ganze Legislaturperiode gebildet werden, dann könnten die Commissionen nöthigenfalls während der Vertagung des Reichstags nud des Landtags arbeiten. Der Gewinn für die Arbeit läge auf der Hand, Ein paar aus den jetzigen Vorschriften sich ergebende Schwierigkeiten wären kinderleicht ohne Nachtheil zu beseitigen. Die Vorschrift, daß abgekehrte An¬ träge in derselben Session nicht wiederkehren dürfen, wäre durch die Vorschrift zu ersetzen, daß sie vor 6 Monaten nicht wiederholt werden dürfen, es sei denn nach Stellung der Vorfrage, welche an die Regierung zu richten wäre bei Par- lamentsantrügcn, welche erstere abgelehnt hat, an das Parlament bei Anträgen, welche, ob ans seiner Mitte oder von der Regierung eingebracht, von ersterm abgelehnt sind. Es giebt also für ein einigermaßen freies und bewegliches Denken mehr als einen Ausweg aus der kläglichen Unbeholfenheit der bloßen Formalien unsres Parlamentarismus. Aber freilich: ein freies und bewegliches Denken, das ist es gerade, was unsern Parlamentariern bis auf den letzten Tropfen abhanden gekommen ist. Der erste Tag der zweiten Berathung der zweijährigen Vudgctperiode brachte eine Rede des Fürsten Bismarck, welche mit einer persönlichen Anrufung an Herrn von Bemiigsen schloß, wie sie der Reichskanzler noch nie hat ergehen lassen. Der Reichskanzler hatte nicht wissen können, ob und was Herr von Bemiigsen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/258>, abgerufen am 03.07.2024.