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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Ein Wendepunkt in der Gesellschaftslehre.

so gewachsen, daß für alle diejenigen, welche nicht mit einem so radicalen Ver¬
treter der Freihandelstheorie, wie Prince-Smith, im gesammten Handelsverkehr
"ein einziges Organ, den Markt" sehen, wo einzig "abgerechnet und ausein¬
andergesetzt", aber "keine Gemeinschaft gebildet" wird, in der That die Ueber-
legung sehr nahe liegt, zu welchen Formen höherer Gemeinschaftsbildung, näm¬
lich über die Staaten hinaus, wohl dereinst die Menschheit auf Grund dieser
mehr als wunderbaren Annäherung seiner einzelnen Glieder und Gliederungen
vordringen wird. Wenn für eine Weltmonarchie oder Weltrepublik die ein¬
heitliche Uebersicht von einem Centrum aus undenkbar bleibt, sollte nicht ein
Weltstaatenbund oder gar ein Weltbundesstaat nach Art der Vereinigten Staaten
dermaleinst durchführbar sein? Denn im Gegensatze zur Freihandelstheorie
müssen wir auf Grund der Geschichte behaupten, daß jeder Staat aus der
Volkswirthschaft als seiner Basis aufwächst, nur freilich so, daß es eine Volkswirth¬
schaft ist, d. h. daß die Staatseinheit nicht eine wirthschaftliche Einheit, sondern
die Einheit eines geschichtlich gewordenen Volksganzen zum Ausdrucke bringt.
So allein kann es überhaupt zur Bildung von allmählich heranwachsenden
Gemeinschaftsorganismen kommen; denn die Wirthschaft eines räumlichen Be¬
zirks ist freilich von vornherein aus widerstreitenden Interessen gemischt, sodaß
die Wirthschaft als solche alle Grenzen überschreitend aufs Internationale an¬
gelegt erscheint, während jede staatsbildende Gemeinschaft von vornherein einen
ausschließenden Charakter hat, aber doch wieder eben auf dem Grunde von
Mein und Dein, sowohl nach außen wie nach innen. Wie aber der Boden,
in dem der Staat wurzelt, ein wirthschaftlicher ist, so sehr, daß ein gar zu
scharfer Widerstreit der wirthschaftlichen Interessen in räumlicher Geschiedenheit
nach Districten auch die staatliche Einheit gefährdet -- man denke an die ge¬
scheiterte Vereinigung von Belgien und Holland oder an den Norden und
Süden der Vereinigten Staaten von Nordamerika -- so müßte auch die wirth¬
schaftliche Einheit, sollte man denken, die Ausbildung einer weitern, gemein¬
rechtlichen, einheitlichen Organisation nach sich ziehen; und da das wirthschaft¬
liche Streben in seiner Richtung aufs Unbegrenzte seine Einheit erst findet an
den Grenzen der Menschheit selbst, so müßte eine solche Organisation auch eine
die gesammte Menschheit umspannende sein.

Wem dies als eine vage Speculation erscheint, dem stellen wir die Worte
entgegen, mit denen ein so realistischer Denker wie Schäffle am Ende des ersten
Bandes feines oben genannten großen Werkes (S. 842) über diesen Punkt sich
ausspricht: "Die souveränen Socialeinheiten der heutigen Geschichtsepoche treiben
volkswirtschaftlich, politisch, wissenschaftlich, kirchlich u. f. w. noch höheren Ein¬
heiten entgegen; zum Theil sind diese zusammengesetzteren Formen der Einheit
schon erreicht. Wir nennen Bundesstaaten, Vereinigte Staaten, Staatenbünde


Grenzboten I. 1881. S
Ein Wendepunkt in der Gesellschaftslehre.

so gewachsen, daß für alle diejenigen, welche nicht mit einem so radicalen Ver¬
treter der Freihandelstheorie, wie Prince-Smith, im gesammten Handelsverkehr
„ein einziges Organ, den Markt" sehen, wo einzig „abgerechnet und ausein¬
andergesetzt", aber „keine Gemeinschaft gebildet" wird, in der That die Ueber-
legung sehr nahe liegt, zu welchen Formen höherer Gemeinschaftsbildung, näm¬
lich über die Staaten hinaus, wohl dereinst die Menschheit auf Grund dieser
mehr als wunderbaren Annäherung seiner einzelnen Glieder und Gliederungen
vordringen wird. Wenn für eine Weltmonarchie oder Weltrepublik die ein¬
heitliche Uebersicht von einem Centrum aus undenkbar bleibt, sollte nicht ein
Weltstaatenbund oder gar ein Weltbundesstaat nach Art der Vereinigten Staaten
dermaleinst durchführbar sein? Denn im Gegensatze zur Freihandelstheorie
müssen wir auf Grund der Geschichte behaupten, daß jeder Staat aus der
Volkswirthschaft als seiner Basis aufwächst, nur freilich so, daß es eine Volkswirth¬
schaft ist, d. h. daß die Staatseinheit nicht eine wirthschaftliche Einheit, sondern
die Einheit eines geschichtlich gewordenen Volksganzen zum Ausdrucke bringt.
So allein kann es überhaupt zur Bildung von allmählich heranwachsenden
Gemeinschaftsorganismen kommen; denn die Wirthschaft eines räumlichen Be¬
zirks ist freilich von vornherein aus widerstreitenden Interessen gemischt, sodaß
die Wirthschaft als solche alle Grenzen überschreitend aufs Internationale an¬
gelegt erscheint, während jede staatsbildende Gemeinschaft von vornherein einen
ausschließenden Charakter hat, aber doch wieder eben auf dem Grunde von
Mein und Dein, sowohl nach außen wie nach innen. Wie aber der Boden,
in dem der Staat wurzelt, ein wirthschaftlicher ist, so sehr, daß ein gar zu
scharfer Widerstreit der wirthschaftlichen Interessen in räumlicher Geschiedenheit
nach Districten auch die staatliche Einheit gefährdet — man denke an die ge¬
scheiterte Vereinigung von Belgien und Holland oder an den Norden und
Süden der Vereinigten Staaten von Nordamerika — so müßte auch die wirth¬
schaftliche Einheit, sollte man denken, die Ausbildung einer weitern, gemein¬
rechtlichen, einheitlichen Organisation nach sich ziehen; und da das wirthschaft¬
liche Streben in seiner Richtung aufs Unbegrenzte seine Einheit erst findet an
den Grenzen der Menschheit selbst, so müßte eine solche Organisation auch eine
die gesammte Menschheit umspannende sein.

Wem dies als eine vage Speculation erscheint, dem stellen wir die Worte
entgegen, mit denen ein so realistischer Denker wie Schäffle am Ende des ersten
Bandes feines oben genannten großen Werkes (S. 842) über diesen Punkt sich
ausspricht: „Die souveränen Socialeinheiten der heutigen Geschichtsepoche treiben
volkswirtschaftlich, politisch, wissenschaftlich, kirchlich u. f. w. noch höheren Ein¬
heiten entgegen; zum Theil sind diese zusammengesetzteren Formen der Einheit
schon erreicht. Wir nennen Bundesstaaten, Vereinigte Staaten, Staatenbünde


Grenzboten I. 1881. S
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/69>, abgerufen am 27.12.2024.