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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Lin Wendepunkt in der Gesellschaftslehre.

übertreffender Belesenheit alle Wissenschaften encyklopädisch sür diesen Zweck
verwerthenden großartigen Werke: "Bau und Leben des socialen Kör¬
pers. Encyklopädischer Entwurf einer realen Anatomie, Physiologie und Psy¬
chologie der menschlichen Gesellschaft, mit besonderer Rücksicht auf die Volks¬
wirthschaft als socialer Stoffwechsel." (Tübingen, Lanppsche Buchhandlung,
4 Bde. 1875--1878.) Wir führen den langen Titel nicht ohne Grund im
Texte an, denn er giebt in der Kürze eine ungefähre Vorstellung von dem, was
in den vier großen Bünden, von denen der erste überdies einem Doppelband an
Stärke gleichkommt, binnen drei Jahren zur Durcharbeitung gebracht worden ist.

Was aber dieser wunderbaren Wende in der Gesellschaftslehre erst die
rechte Bedeutung giebt, das find zwei Umstände. Der erste ist der, daß die
Anregung zu dieser Auffassung der menschlichen Gesellschaft von der Natur¬
wissenschaft und zwar von der jetzt auf diesem Gebiete so siegreich vordringen¬
den Richtung des Darwinismus ausgegangen ist. Die Folge war, daß die ge¬
nannten Sociologen mehr oder weniger in diese Richtung einmündeten und
daß erst dadurch der Darwinismus recht eigentlich zu einer alle Gebiete mensch¬
lichen Denkens umfassenden Weltanschauung zu werden im Begriffe steht. Der
zweite Umstand ist der, daß die Entwicklung der Menschheit auf einem Punkte
angelangt ist, wo es auch den Massen der civilifirteren Länder zum Bewußt¬
sein gekommen ist, daß die gesamte Menschheit ein solidarisch verbundenes
reales Ganzes ausmacht. Die Erscheinung der Neuzeit, welche uns unwider-
leglich dargethan hat, daß wir im weltgeschichtlichen Fortschritt diesen Punkt
erreicht haben, ist -- der Socialismus. Denn diese Idee ist der Schlußstein
von Schäffles ganzem System; er gehört unabweisbar zur "Quintessenz" des¬
selben, wenngleich er ihn in seinem bekannten Büchlein über den Socialismus
in den Hintergrund treten läßt, ohne ihn indeß zu übersehen. Schüffle geht
von der Einsicht aus, daß die Grundidee des Socialismus eine wirthschaftliche
sei, und so versucht er den reinen Grundgedanken des Systems herauszuschälen
und auf seine Lebensfähigkeit zu prüfen. Das nun gerade ist von besonderer
Bedeutung, daß der Socialismus bei seinen internationalen Ideen von dem
allerrealsten Gebiete menschlichen Strebens, sozusagen, ausgeht, denn gerade
hier muß jede Erkenntniß stets den Blick auf das praktische Handeln gerichtet
halten. Unbegreiflich ist es ja freilich nicht, daß der Gedanke einer so realen
Solidarität des Menschengeschlechts Boden gefaßt und Wurzel geschlagen hat,
nachdem innerhalb des letzten halben Jahrhunderts die Erde sich durch Dampf¬
schiffe, Eisenbahnen und Telegraphen auf einen unendlich kleinen Bruchtheil
ihrer frühern Ausdehnung zusammengezogen hat und unausgesetzt noch weiter
zusammenzieht. Das Maß, in welchem die Völker des Erdenrunds in ihren
Bedürfnissen von einander abhängig geworden sind, ist infolge dessen bereits


Lin Wendepunkt in der Gesellschaftslehre.

übertreffender Belesenheit alle Wissenschaften encyklopädisch sür diesen Zweck
verwerthenden großartigen Werke: „Bau und Leben des socialen Kör¬
pers. Encyklopädischer Entwurf einer realen Anatomie, Physiologie und Psy¬
chologie der menschlichen Gesellschaft, mit besonderer Rücksicht auf die Volks¬
wirthschaft als socialer Stoffwechsel." (Tübingen, Lanppsche Buchhandlung,
4 Bde. 1875—1878.) Wir führen den langen Titel nicht ohne Grund im
Texte an, denn er giebt in der Kürze eine ungefähre Vorstellung von dem, was
in den vier großen Bünden, von denen der erste überdies einem Doppelband an
Stärke gleichkommt, binnen drei Jahren zur Durcharbeitung gebracht worden ist.

Was aber dieser wunderbaren Wende in der Gesellschaftslehre erst die
rechte Bedeutung giebt, das find zwei Umstände. Der erste ist der, daß die
Anregung zu dieser Auffassung der menschlichen Gesellschaft von der Natur¬
wissenschaft und zwar von der jetzt auf diesem Gebiete so siegreich vordringen¬
den Richtung des Darwinismus ausgegangen ist. Die Folge war, daß die ge¬
nannten Sociologen mehr oder weniger in diese Richtung einmündeten und
daß erst dadurch der Darwinismus recht eigentlich zu einer alle Gebiete mensch¬
lichen Denkens umfassenden Weltanschauung zu werden im Begriffe steht. Der
zweite Umstand ist der, daß die Entwicklung der Menschheit auf einem Punkte
angelangt ist, wo es auch den Massen der civilifirteren Länder zum Bewußt¬
sein gekommen ist, daß die gesamte Menschheit ein solidarisch verbundenes
reales Ganzes ausmacht. Die Erscheinung der Neuzeit, welche uns unwider-
leglich dargethan hat, daß wir im weltgeschichtlichen Fortschritt diesen Punkt
erreicht haben, ist — der Socialismus. Denn diese Idee ist der Schlußstein
von Schäffles ganzem System; er gehört unabweisbar zur „Quintessenz" des¬
selben, wenngleich er ihn in seinem bekannten Büchlein über den Socialismus
in den Hintergrund treten läßt, ohne ihn indeß zu übersehen. Schüffle geht
von der Einsicht aus, daß die Grundidee des Socialismus eine wirthschaftliche
sei, und so versucht er den reinen Grundgedanken des Systems herauszuschälen
und auf seine Lebensfähigkeit zu prüfen. Das nun gerade ist von besonderer
Bedeutung, daß der Socialismus bei seinen internationalen Ideen von dem
allerrealsten Gebiete menschlichen Strebens, sozusagen, ausgeht, denn gerade
hier muß jede Erkenntniß stets den Blick auf das praktische Handeln gerichtet
halten. Unbegreiflich ist es ja freilich nicht, daß der Gedanke einer so realen
Solidarität des Menschengeschlechts Boden gefaßt und Wurzel geschlagen hat,
nachdem innerhalb des letzten halben Jahrhunderts die Erde sich durch Dampf¬
schiffe, Eisenbahnen und Telegraphen auf einen unendlich kleinen Bruchtheil
ihrer frühern Ausdehnung zusammengezogen hat und unausgesetzt noch weiter
zusammenzieht. Das Maß, in welchem die Völker des Erdenrunds in ihren
Bedürfnissen von einander abhängig geworden sind, ist infolge dessen bereits


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/68>, abgerufen am 27.12.2024.