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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Lin Wendepunkt in der Gesellschaftslehre.

man darin eine von außen wirkende Kraft erblicken, wie beim fortgeschleu¬
derten Steine? Sollte es wirklich mehr Wahrscheinlichkeit haben, in der viel¬
tausendjährigen Bewegung der Gestirne durch ihre genan bemessenen Bahnen
dies Jongleurkunststück eines hierdurch ganz in Anspruch genommenen Gottes
M sehn?

Wenn ein Elephant ganze Thürme mit Kriegern auf seinem Rücken trägt,
warum dies Erdwesen nicht alle Fauna und Flora, die uns umgiebt? Und
wenn der höchste Berg der Erde nicht großer ist als der Kopf einer Steck¬
nadel im Verhältniß zum gewöhnlichen Schulglobus, so werden wir Para¬
siten dieses Geschöpfes mit unsern Civilisationsbestrebungen auf seiner Ober¬
fläche demselben wenig bemerkbar werden und werden ihm selbst mit unsern
tiefsten Bergwerken durch seine dicke Haut nicht annähernd hindurch fahren.
Wie völlig unmöglich wäre es demnach erst für uns, so weit ins Innere dieses
Kolosses einzudringen, daß wir denselben ans Grund seiner innern Structur
als einen Organismus darzuthun im Stande wären!

Nicht weniger verwunderlich, sondern viel weniger einleuchtend für unser
Vorstellungsvermögen ist es nun aber an sich, wenn jemand mit der Behaup¬
tung auftritt, die gesammte Menschheit sei genau in derselben Weise als
ein in sich geschlossenes, lebendiges Ganzes aufzufassen wie der einzelne Mensch,
ja die ganze Menschheit sei nicht nur ein "einziges unermeßliches und ewiges
Individuum," wie schon Pascal und Comte behaupteten, sondern sie sei ein
einziger wirklicher, nachweisbarer Körper. Mit diesem Nachweise zu¬
erst vollen Ernst gemacht zu haben, ist das Verdienst -- vorausgesetzt, daß es
eines ist -- eines praktischen Staatsmannes, des Gouverneurs von Kur¬
land, Paul von Lilienfeld, von dessen "Gedanken über die Social¬
wissenschaft der Zukunft" (Mittau, Behres Verlag) 1873 der erste Auf¬
sehen erregende Theil erschien, dem dann bis 1879 drei weitere Bände gefolgt
sind, ohne daß dieselben das großartig angelegte Werk zum Abschlüsse ge¬
bracht hätten.

Es ist aber nicht die Grille eines Sonderlings, welche wir hier vor uns
haben, sondern weit entfernt, mit dieser Auffassung allein zu stehen, hat er
für sich vielmehr die bedeutendsten Vorgänger und Nachfolger auf dieser Bahn
aufzuweisen. Von den erstem, die freilich nur in vereinzelten Analogieen
jene Richtung andeuteten, nennen wir außer Comte noch dessen Schüler
Lider", den Engländer Spencer und den Amerikaner Carey, von den letztern
z. B. Dr. Neurath in seinen vor kurzem erschienenen "Volkswirthschaftlichen
und socialphilosophischen Essays" (Wien, 1880), zu beiden aber den bekannten,
hochbegabten frühern Professor der Nationalökonomie, spätern österreichischen
Staatsminister or. Schaffte in seinem mit unglaublicher und Lilienfeld noch


Lin Wendepunkt in der Gesellschaftslehre.

man darin eine von außen wirkende Kraft erblicken, wie beim fortgeschleu¬
derten Steine? Sollte es wirklich mehr Wahrscheinlichkeit haben, in der viel¬
tausendjährigen Bewegung der Gestirne durch ihre genan bemessenen Bahnen
dies Jongleurkunststück eines hierdurch ganz in Anspruch genommenen Gottes
M sehn?

Wenn ein Elephant ganze Thürme mit Kriegern auf seinem Rücken trägt,
warum dies Erdwesen nicht alle Fauna und Flora, die uns umgiebt? Und
wenn der höchste Berg der Erde nicht großer ist als der Kopf einer Steck¬
nadel im Verhältniß zum gewöhnlichen Schulglobus, so werden wir Para¬
siten dieses Geschöpfes mit unsern Civilisationsbestrebungen auf seiner Ober¬
fläche demselben wenig bemerkbar werden und werden ihm selbst mit unsern
tiefsten Bergwerken durch seine dicke Haut nicht annähernd hindurch fahren.
Wie völlig unmöglich wäre es demnach erst für uns, so weit ins Innere dieses
Kolosses einzudringen, daß wir denselben ans Grund seiner innern Structur
als einen Organismus darzuthun im Stande wären!

Nicht weniger verwunderlich, sondern viel weniger einleuchtend für unser
Vorstellungsvermögen ist es nun aber an sich, wenn jemand mit der Behaup¬
tung auftritt, die gesammte Menschheit sei genau in derselben Weise als
ein in sich geschlossenes, lebendiges Ganzes aufzufassen wie der einzelne Mensch,
ja die ganze Menschheit sei nicht nur ein „einziges unermeßliches und ewiges
Individuum," wie schon Pascal und Comte behaupteten, sondern sie sei ein
einziger wirklicher, nachweisbarer Körper. Mit diesem Nachweise zu¬
erst vollen Ernst gemacht zu haben, ist das Verdienst — vorausgesetzt, daß es
eines ist — eines praktischen Staatsmannes, des Gouverneurs von Kur¬
land, Paul von Lilienfeld, von dessen „Gedanken über die Social¬
wissenschaft der Zukunft" (Mittau, Behres Verlag) 1873 der erste Auf¬
sehen erregende Theil erschien, dem dann bis 1879 drei weitere Bände gefolgt
sind, ohne daß dieselben das großartig angelegte Werk zum Abschlüsse ge¬
bracht hätten.

Es ist aber nicht die Grille eines Sonderlings, welche wir hier vor uns
haben, sondern weit entfernt, mit dieser Auffassung allein zu stehen, hat er
für sich vielmehr die bedeutendsten Vorgänger und Nachfolger auf dieser Bahn
aufzuweisen. Von den erstem, die freilich nur in vereinzelten Analogieen
jene Richtung andeuteten, nennen wir außer Comte noch dessen Schüler
Lider», den Engländer Spencer und den Amerikaner Carey, von den letztern
z. B. Dr. Neurath in seinen vor kurzem erschienenen „Volkswirthschaftlichen
und socialphilosophischen Essays" (Wien, 1880), zu beiden aber den bekannten,
hochbegabten frühern Professor der Nationalökonomie, spätern österreichischen
Staatsminister or. Schaffte in seinem mit unglaublicher und Lilienfeld noch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/67>, abgerufen am 27.12.2024.