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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Die griechische Frage,

für authentisch zu halten allen Grund haben. Der Correspondent hatte sich ge¬
wundert, daß die Botschafter von der Pforte wieder einmal auf die Zukunft ver¬
tröstet worden, und gemeint, daß zu diesem Spiele viel Geduld gehöre. Der
Türke war dagegen der Meinung, daß vielmehr die Türken Ursache hätten, über
die Ungeduld der auswärtigen Machte zu erstaunen. Er sagte:

"Wie können der Sultan und seine Rathgeber über eine bedeutungsvolle Frage
gleich der, die hier vorliegt, rasch zu einem Entschlüsse kommen? Scheu Sie doch
einmal, was man von uns fordert. Vor zwei Generationen dehnte sich das osmanische
Reich noch vom Pruth bis zum Cap Matnpan aus und war nach Rußland der
größte Staat Europas. Durch fortdauernde Beschreibungen, indem mau zuerst im
Süden Griechenland, dann im Norden Serbien und Rumänien lostrennte, und indem
man endlich nach dem letzten Kriege Bosnien für Oesterreich wegnahm, Bulgarien
ganz unabhängig machte, Ostrumclien eine halbe Unabhängigkeit gewährte und Serbien,
Rumänien und Montenegro durch Einverleibung von benachbartem türkischem Ge¬
biete vergrößerte, ist die Türkei in Europa in einen der kleinsten europäischen Staate"
verwandelt worden. Wir haben bereits zwei Drittel unsers ehemaligen europäischen
Besitzes verloren, und unsre europäische Bevölkerung ist binnen wenigen Jahren von
zwanzig auf fünf Millionen zusammengeschmolzen. Im Jahre 1820 besaßen wir
etwa zweimalhunderttausend Quadratmeilen (englische natürlich) Gebiet in Europa,
und davon sind uns keine sechzigtausend übrig geblieben. Das alles genügt den
Mächten noch nicht. Von jenem geringen Nest unseres Reiches sollen wir jetzt noch
fast zehntausend Quadrcitmeileu Laud mit 750 000 Einwohnern, den besten Unter¬
thanen des Sultans, an Griechenland herausgeben. Wollen Sie es erstaunlich finden,
wenn wir zögern? Ist es uicht vielmehr ein Wunder, daß wir nicht ungeduldig
werden und, alle Vorsicht bei Seite lassend, für unser Erbtheil, unsre Macht und
unser Ansehen kämpfen, wie es das Volk der Osmanen allezeit gehalten hat? Wir
haben diesen Schritt bis jetzt unterlassen, und Europa schuldet dem Sultan auch
deshalb Rücksicht. Man drängt uns aber und will uns keine Ueberlegung gönnen;
während es ganz natürlich ist, daß der Sultan zögert, eine so große Anzahl von
Glaubensgenossen dem Erbfeinde zu überantworten, geberden sich die Diplomaten,
als ob sie zu erwarten berechtigt wären, er werde es mit Vergnügen und in aller
Geschwindigkeit thun."

Die französische Ansicht von der griechisch-türkischen Frage ist vorzüglich in
der Note Bartholemys vom 24. December v. I. und in dessen Depesche vom
7. Januar d. I. ausgesprochen. In dein ersten Actenstücke heißt es u. a.:

"Seit der Abtretung von Dulciguo kündigt Griechenland seine Absicht an,
die Türkei anzugreifen, sobald militärische Operationen vrakticabel sein werden.
Um den Preis ungeheurer Opfer trifft es öffentliche Vorbereitungen, um mit den
Waffen die Gebiete vou Epirus und Thessalien zu erlangen, von welchen es glaubt,
daß dieselben ihm nach den Entscheidungen der Berliner Conferenz von Rechtswegen
gehören. Indem Griechenland diesen Vorwand nimmt, begründet es seine Ansprüche
auf einen augenfälligen Irrthum, der schon mehrmals zurückgewiesen worden ist
und jedesmal zurückgewiesen werden muß, wenn er vorgebracht wird. Im 24. Artikel
des Berliner Vertrags hat Europa erklärt, daß es, falls mau es dazu auffordere,
zwischen der Pforte und Griechenland vermitteln wolle, ,um die Verhandlungen in


Die griechische Frage,

für authentisch zu halten allen Grund haben. Der Correspondent hatte sich ge¬
wundert, daß die Botschafter von der Pforte wieder einmal auf die Zukunft ver¬
tröstet worden, und gemeint, daß zu diesem Spiele viel Geduld gehöre. Der
Türke war dagegen der Meinung, daß vielmehr die Türken Ursache hätten, über
die Ungeduld der auswärtigen Machte zu erstaunen. Er sagte:

„Wie können der Sultan und seine Rathgeber über eine bedeutungsvolle Frage
gleich der, die hier vorliegt, rasch zu einem Entschlüsse kommen? Scheu Sie doch
einmal, was man von uns fordert. Vor zwei Generationen dehnte sich das osmanische
Reich noch vom Pruth bis zum Cap Matnpan aus und war nach Rußland der
größte Staat Europas. Durch fortdauernde Beschreibungen, indem mau zuerst im
Süden Griechenland, dann im Norden Serbien und Rumänien lostrennte, und indem
man endlich nach dem letzten Kriege Bosnien für Oesterreich wegnahm, Bulgarien
ganz unabhängig machte, Ostrumclien eine halbe Unabhängigkeit gewährte und Serbien,
Rumänien und Montenegro durch Einverleibung von benachbartem türkischem Ge¬
biete vergrößerte, ist die Türkei in Europa in einen der kleinsten europäischen Staate»
verwandelt worden. Wir haben bereits zwei Drittel unsers ehemaligen europäischen
Besitzes verloren, und unsre europäische Bevölkerung ist binnen wenigen Jahren von
zwanzig auf fünf Millionen zusammengeschmolzen. Im Jahre 1820 besaßen wir
etwa zweimalhunderttausend Quadratmeilen (englische natürlich) Gebiet in Europa,
und davon sind uns keine sechzigtausend übrig geblieben. Das alles genügt den
Mächten noch nicht. Von jenem geringen Nest unseres Reiches sollen wir jetzt noch
fast zehntausend Quadrcitmeileu Laud mit 750 000 Einwohnern, den besten Unter¬
thanen des Sultans, an Griechenland herausgeben. Wollen Sie es erstaunlich finden,
wenn wir zögern? Ist es uicht vielmehr ein Wunder, daß wir nicht ungeduldig
werden und, alle Vorsicht bei Seite lassend, für unser Erbtheil, unsre Macht und
unser Ansehen kämpfen, wie es das Volk der Osmanen allezeit gehalten hat? Wir
haben diesen Schritt bis jetzt unterlassen, und Europa schuldet dem Sultan auch
deshalb Rücksicht. Man drängt uns aber und will uns keine Ueberlegung gönnen;
während es ganz natürlich ist, daß der Sultan zögert, eine so große Anzahl von
Glaubensgenossen dem Erbfeinde zu überantworten, geberden sich die Diplomaten,
als ob sie zu erwarten berechtigt wären, er werde es mit Vergnügen und in aller
Geschwindigkeit thun."

Die französische Ansicht von der griechisch-türkischen Frage ist vorzüglich in
der Note Bartholemys vom 24. December v. I. und in dessen Depesche vom
7. Januar d. I. ausgesprochen. In dein ersten Actenstücke heißt es u. a.:

„Seit der Abtretung von Dulciguo kündigt Griechenland seine Absicht an,
die Türkei anzugreifen, sobald militärische Operationen vrakticabel sein werden.
Um den Preis ungeheurer Opfer trifft es öffentliche Vorbereitungen, um mit den
Waffen die Gebiete vou Epirus und Thessalien zu erlangen, von welchen es glaubt,
daß dieselben ihm nach den Entscheidungen der Berliner Conferenz von Rechtswegen
gehören. Indem Griechenland diesen Vorwand nimmt, begründet es seine Ansprüche
auf einen augenfälligen Irrthum, der schon mehrmals zurückgewiesen worden ist
und jedesmal zurückgewiesen werden muß, wenn er vorgebracht wird. Im 24. Artikel
des Berliner Vertrags hat Europa erklärt, daß es, falls mau es dazu auffordere,
zwischen der Pforte und Griechenland vermitteln wolle, ,um die Verhandlungen in


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[0558] Die griechische Frage, für authentisch zu halten allen Grund haben. Der Correspondent hatte sich ge¬ wundert, daß die Botschafter von der Pforte wieder einmal auf die Zukunft ver¬ tröstet worden, und gemeint, daß zu diesem Spiele viel Geduld gehöre. Der Türke war dagegen der Meinung, daß vielmehr die Türken Ursache hätten, über die Ungeduld der auswärtigen Machte zu erstaunen. Er sagte: „Wie können der Sultan und seine Rathgeber über eine bedeutungsvolle Frage gleich der, die hier vorliegt, rasch zu einem Entschlüsse kommen? Scheu Sie doch einmal, was man von uns fordert. Vor zwei Generationen dehnte sich das osmanische Reich noch vom Pruth bis zum Cap Matnpan aus und war nach Rußland der größte Staat Europas. Durch fortdauernde Beschreibungen, indem mau zuerst im Süden Griechenland, dann im Norden Serbien und Rumänien lostrennte, und indem man endlich nach dem letzten Kriege Bosnien für Oesterreich wegnahm, Bulgarien ganz unabhängig machte, Ostrumclien eine halbe Unabhängigkeit gewährte und Serbien, Rumänien und Montenegro durch Einverleibung von benachbartem türkischem Ge¬ biete vergrößerte, ist die Türkei in Europa in einen der kleinsten europäischen Staate» verwandelt worden. Wir haben bereits zwei Drittel unsers ehemaligen europäischen Besitzes verloren, und unsre europäische Bevölkerung ist binnen wenigen Jahren von zwanzig auf fünf Millionen zusammengeschmolzen. Im Jahre 1820 besaßen wir etwa zweimalhunderttausend Quadratmeilen (englische natürlich) Gebiet in Europa, und davon sind uns keine sechzigtausend übrig geblieben. Das alles genügt den Mächten noch nicht. Von jenem geringen Nest unseres Reiches sollen wir jetzt noch fast zehntausend Quadrcitmeileu Laud mit 750 000 Einwohnern, den besten Unter¬ thanen des Sultans, an Griechenland herausgeben. Wollen Sie es erstaunlich finden, wenn wir zögern? Ist es uicht vielmehr ein Wunder, daß wir nicht ungeduldig werden und, alle Vorsicht bei Seite lassend, für unser Erbtheil, unsre Macht und unser Ansehen kämpfen, wie es das Volk der Osmanen allezeit gehalten hat? Wir haben diesen Schritt bis jetzt unterlassen, und Europa schuldet dem Sultan auch deshalb Rücksicht. Man drängt uns aber und will uns keine Ueberlegung gönnen; während es ganz natürlich ist, daß der Sultan zögert, eine so große Anzahl von Glaubensgenossen dem Erbfeinde zu überantworten, geberden sich die Diplomaten, als ob sie zu erwarten berechtigt wären, er werde es mit Vergnügen und in aller Geschwindigkeit thun." Die französische Ansicht von der griechisch-türkischen Frage ist vorzüglich in der Note Bartholemys vom 24. December v. I. und in dessen Depesche vom 7. Januar d. I. ausgesprochen. In dein ersten Actenstücke heißt es u. a.: „Seit der Abtretung von Dulciguo kündigt Griechenland seine Absicht an, die Türkei anzugreifen, sobald militärische Operationen vrakticabel sein werden. Um den Preis ungeheurer Opfer trifft es öffentliche Vorbereitungen, um mit den Waffen die Gebiete vou Epirus und Thessalien zu erlangen, von welchen es glaubt, daß dieselben ihm nach den Entscheidungen der Berliner Conferenz von Rechtswegen gehören. Indem Griechenland diesen Vorwand nimmt, begründet es seine Ansprüche auf einen augenfälligen Irrthum, der schon mehrmals zurückgewiesen worden ist und jedesmal zurückgewiesen werden muß, wenn er vorgebracht wird. Im 24. Artikel des Berliner Vertrags hat Europa erklärt, daß es, falls mau es dazu auffordere, zwischen der Pforte und Griechenland vermitteln wolle, ,um die Verhandlungen in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/558>, abgerufen am 28.12.2024.