Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.Julius Mosen. die düster grausige "Vision," "Sünde und Sühne," "Decembermorgen," "Der Julius Mosen. die düster grausige „Vision," „Sünde und Sühne," „Decembermorgen," „Der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0032" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/149016"/> <fw type="header" place="top"> Julius Mosen.</fw><lb/> <p xml:id="ID_63" prev="#ID_62" next="#ID_64"> die düster grausige „Vision," „Sünde und Sühne," „Decembermorgen," „Der<lb/> Rehschädel" werden nicht jeden erquicken; doch dürfte sie niemand didaktisch und<lb/> unsinnlich schelten. Von den balladeniihnlichen Liedern haben, wie schon er¬<lb/> wähnt, „Die letzten zehn vom vierten Regiment," „Andreas Hofer" und „Der<lb/> Trompeter an der Katzbach" Mosers Namen über alles deutsche Land hinge¬<lb/> tragen und können nur mit der gegenwärtigen deutschen Sprache selbst ver¬<lb/> klingen. Gleiche Auszeichnung verdienten „Der Schafhirt," „Der erstochene Reiter",<lb/> „Das Waldweib," „Des Waffenschmieds Fenster." Unter den rein lyrischen ver¬<lb/> dienen „Ruhe am See," „Der träumende See," „Der Nußbaum," „Brennende<lb/> Liebe," „Frühlingsnacht," „Im Sommer," „Waldeinsamkeit," „Die Frühlings¬<lb/> lerche," „Die Aloe" den Preis, in jedes Herz hineinzuklingen. Seine über die<lb/> Lyrik hinausstrebende Phantasie und die größere Gestaltungskraft, deren er sich<lb/> bewußt war, legte Mosen schon in den ersten Jahren in Dresden in den Tra¬<lb/> gödien „Kaiser Otto III." und „Die Bräute von Florenz" dar, welche beide<lb/> („Otto III." am 30. September 1839, „Die Bräute von Florenz" am 1. Januar<lb/> 1841) von der Dresdner Hofbühne zur erfolgreichen Aufführung gebracht wurden,<lb/> sowie in der großen epischen Dichtung „Ahasver" (zuerst erschienen 1838). So¬<lb/> wohl „Otto III." als „Ahasver" gehören zu den bedeutendsten Zeugnissen von<lb/> Mosers Talent, den werthvollsten poetischen Schöpfungen der dreißiger Jahre.<lb/> In „Kaiser Otto III." ergreift vor allen die von echt poetischem Duft umhauchte<lb/> Gestalt der Stephanie und ihre wahrhaft tragische Situation; im „Ahasver"<lb/> aber wird immer die kühn großartige und tiefsinnige Anlage des Gedichts, die<lb/> ganze Ausführung der ersten Gesänge, in denen es sich noch auf realem Boden<lb/> bewegt, bewundert werden. Und doch tritt schon in diesen beiden Werken ein<lb/> schwer zu charakterisierendes Etwas hervor, welches lähmend und hemmend in<lb/> Mosers weitrer künstlerischer Entwicklung wirken sollte, ein Einfluß philosophisch<lb/> kritischer und politischer Zeitanschauungen, denen sich der Dichter fernerhin nur<lb/> dann ganz zu entwinden vermochte, wenn er, wie in einigen der schönsten und<lb/> anmuthigsten spätern Novellen ans den „Bildern im Moose", unbewußt und<lb/> gleichsam instinctiv auf den Heimatboden der naiven Poesie zurückkehrte. In<lb/> „Otto III." macht sich ein Zug zu großen opernhaften Scenen, welche nicht die<lb/> äußerliche Schaulust befriedigen, sondern das große weltgeschichtliche Massen¬<lb/> leben vergegenwärtigen sollen, so entschieden geltend, daß es mit den Hilfsmit¬<lb/> teln der modernsten dramatischen Musik wohl gelingen könnte, die Tragödie mit<lb/> sehr geringen Veränderungen in ein musikalisches Drama umzuwandeln. In<lb/> den letzten Gesängen des „Ahasver" tritt an die Stelle plastischer Gestaltung<lb/> eine traumhafte visionäre Darstellung, welche sich bestrebt, überall große welt¬<lb/> geschichtliche Perspektiven zu eröffnen und darüber die eigentlich poetische Wir¬<lb/> kung, welche feste Bilder oder Stimmungen in der Seele hinterläßt, abschwächt.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0032]
Julius Mosen.
die düster grausige „Vision," „Sünde und Sühne," „Decembermorgen," „Der
Rehschädel" werden nicht jeden erquicken; doch dürfte sie niemand didaktisch und
unsinnlich schelten. Von den balladeniihnlichen Liedern haben, wie schon er¬
wähnt, „Die letzten zehn vom vierten Regiment," „Andreas Hofer" und „Der
Trompeter an der Katzbach" Mosers Namen über alles deutsche Land hinge¬
tragen und können nur mit der gegenwärtigen deutschen Sprache selbst ver¬
klingen. Gleiche Auszeichnung verdienten „Der Schafhirt," „Der erstochene Reiter",
„Das Waldweib," „Des Waffenschmieds Fenster." Unter den rein lyrischen ver¬
dienen „Ruhe am See," „Der träumende See," „Der Nußbaum," „Brennende
Liebe," „Frühlingsnacht," „Im Sommer," „Waldeinsamkeit," „Die Frühlings¬
lerche," „Die Aloe" den Preis, in jedes Herz hineinzuklingen. Seine über die
Lyrik hinausstrebende Phantasie und die größere Gestaltungskraft, deren er sich
bewußt war, legte Mosen schon in den ersten Jahren in Dresden in den Tra¬
gödien „Kaiser Otto III." und „Die Bräute von Florenz" dar, welche beide
(„Otto III." am 30. September 1839, „Die Bräute von Florenz" am 1. Januar
1841) von der Dresdner Hofbühne zur erfolgreichen Aufführung gebracht wurden,
sowie in der großen epischen Dichtung „Ahasver" (zuerst erschienen 1838). So¬
wohl „Otto III." als „Ahasver" gehören zu den bedeutendsten Zeugnissen von
Mosers Talent, den werthvollsten poetischen Schöpfungen der dreißiger Jahre.
In „Kaiser Otto III." ergreift vor allen die von echt poetischem Duft umhauchte
Gestalt der Stephanie und ihre wahrhaft tragische Situation; im „Ahasver"
aber wird immer die kühn großartige und tiefsinnige Anlage des Gedichts, die
ganze Ausführung der ersten Gesänge, in denen es sich noch auf realem Boden
bewegt, bewundert werden. Und doch tritt schon in diesen beiden Werken ein
schwer zu charakterisierendes Etwas hervor, welches lähmend und hemmend in
Mosers weitrer künstlerischer Entwicklung wirken sollte, ein Einfluß philosophisch
kritischer und politischer Zeitanschauungen, denen sich der Dichter fernerhin nur
dann ganz zu entwinden vermochte, wenn er, wie in einigen der schönsten und
anmuthigsten spätern Novellen ans den „Bildern im Moose", unbewußt und
gleichsam instinctiv auf den Heimatboden der naiven Poesie zurückkehrte. In
„Otto III." macht sich ein Zug zu großen opernhaften Scenen, welche nicht die
äußerliche Schaulust befriedigen, sondern das große weltgeschichtliche Massen¬
leben vergegenwärtigen sollen, so entschieden geltend, daß es mit den Hilfsmit¬
teln der modernsten dramatischen Musik wohl gelingen könnte, die Tragödie mit
sehr geringen Veränderungen in ein musikalisches Drama umzuwandeln. In
den letzten Gesängen des „Ahasver" tritt an die Stelle plastischer Gestaltung
eine traumhafte visionäre Darstellung, welche sich bestrebt, überall große welt¬
geschichtliche Perspektiven zu eröffnen und darüber die eigentlich poetische Wir¬
kung, welche feste Bilder oder Stimmungen in der Seele hinterläßt, abschwächt.
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