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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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untergeschoben >vordem sei, den verweise ich eins seine eignen Worte. Daß er
seine "^"5>"" nicht als ein nebenherspielendes Verschulden, sondern als die
Ursache der Katastrophe ansieht, drückt er selbst im 13. Capitel seiner Poetik
so aus: "So bleibt also nur ein mittlerer Charakter übrig, d, h. ein solcher,
der sich weder durch Vollkommenheit und Gerechtigkeit auszeichnet, "och auch,
durch Laster und Bosheit ins Unglück stürzt, sondern nur durch einen bestimmten
Fehler." Und einige Zeilen weiter macht er noch einmal daraus aufmerksam
daß die Katastrophe nicht durch Bosheit verschuldet sein dürfe, "U" ->V "^in^r/"^
^-7"^ (sondern durch einen großen Fehler). Hier ist das ursächliche Ver¬
hältniß der Katastrophe zur Schuld aufs unzweideutigste betont, und nur darin
unterscheidet sich Aristoteles von der Aesthetik unserer Tage, daß er diese Er¬
kenntniß nicht unvermittelt in positiver Behauptung hinstellt, sondern daß er,
wie das seine Gewohnheit ist, an der Hand der Erfahrung vorschreitet und nun
in diesem Falle in Form eines kritischen Subtractiousexempels aus einer Reihe
gedachter Fälle den einzig möglichen ausscheidet. Und darin handelte er vielleicht
Weiser als wir Neuern. Wenigstens ist die allgemeine Form, welche wir dem
Satze von der tragischen Schuld gegeben haben, daß sie nämlich stets die noth¬
wendige Ursache der Katastrophe sein müsse, sehr leicht einer großen Mißdeutung
ausgesetzt. Wird nicht auch beim vollendeten Bösewicht die Katastrophe die
unabwendbare Folge seiner Schuld sein? Und wer wird behaupten, daß der
Bösewicht ein würdiger Gegenstand des tragischen Heldenthums sei? Aristoteles
hat durch seine Fassung ein solches Mißverständniß ausgeschlossen.

Und Lessing? Ich glaube seine Sache uicht aus den Augen verloren zu
haben, wenn ich für seinen großen Lehrmeister eine Lanze einlegte. Er folgt
auch hier wie überall im Bereiche der Lehre von der Tragödie den Bahnen,
welche Aristoteles vorgezeichnet hatte. Dennoch wird es keiner Rechtfertigung
bedürfen, wenn wir auch auf seine Auffassung und Begründung des streitigen
Punktes eingehen. Denn dieser Schüler steht seinem Meister mit voller geistiger
Selbständigkeit gegenüber. Er ist nicht einer von denen, die ans Worte schwören.
Jedermann kennt seinen Ausspruch: "Mit dem Ansetzn des Aristoteles wollte
ich bald fertig werden, wenn ich es nur auch mit seinen Gründen zu werden
wüßte" (Dramaturgie, 74. Stück).

Lessing ist nicht gleich anfangs in das Verständniß dieser Stelle des Aristoteles
^"gedrungen. Aristoteles schien ihm eine falsche Erklärung des Mitleids zu
Grunde gelegt zu haben. "Ist es wahr -- schreibt er an Mendelssohn (18. De¬
cember 1756) - daß das Unglück eines allzu tugendhaften Menschen Entsetzen
und Abscheu erweckt? Wenn es wahr ist, so müssen Entsetzen und Abscheu der
höchste Grad des Mitleids sein, welches sie doch nicht sind." Indessen die


Lessmgstildion,

untergeschoben >vordem sei, den verweise ich eins seine eignen Worte. Daß er
seine «^«5>»« nicht als ein nebenherspielendes Verschulden, sondern als die
Ursache der Katastrophe ansieht, drückt er selbst im 13. Capitel seiner Poetik
so aus: „So bleibt also nur ein mittlerer Charakter übrig, d, h. ein solcher,
der sich weder durch Vollkommenheit und Gerechtigkeit auszeichnet, »och auch,
durch Laster und Bosheit ins Unglück stürzt, sondern nur durch einen bestimmten
Fehler." Und einige Zeilen weiter macht er noch einmal daraus aufmerksam
daß die Katastrophe nicht durch Bosheit verschuldet sein dürfe, «U« ->V «^in^r/«^
^-7«^ (sondern durch einen großen Fehler). Hier ist das ursächliche Ver¬
hältniß der Katastrophe zur Schuld aufs unzweideutigste betont, und nur darin
unterscheidet sich Aristoteles von der Aesthetik unserer Tage, daß er diese Er¬
kenntniß nicht unvermittelt in positiver Behauptung hinstellt, sondern daß er,
wie das seine Gewohnheit ist, an der Hand der Erfahrung vorschreitet und nun
in diesem Falle in Form eines kritischen Subtractiousexempels aus einer Reihe
gedachter Fälle den einzig möglichen ausscheidet. Und darin handelte er vielleicht
Weiser als wir Neuern. Wenigstens ist die allgemeine Form, welche wir dem
Satze von der tragischen Schuld gegeben haben, daß sie nämlich stets die noth¬
wendige Ursache der Katastrophe sein müsse, sehr leicht einer großen Mißdeutung
ausgesetzt. Wird nicht auch beim vollendeten Bösewicht die Katastrophe die
unabwendbare Folge seiner Schuld sein? Und wer wird behaupten, daß der
Bösewicht ein würdiger Gegenstand des tragischen Heldenthums sei? Aristoteles
hat durch seine Fassung ein solches Mißverständniß ausgeschlossen.

Und Lessing? Ich glaube seine Sache uicht aus den Augen verloren zu
haben, wenn ich für seinen großen Lehrmeister eine Lanze einlegte. Er folgt
auch hier wie überall im Bereiche der Lehre von der Tragödie den Bahnen,
welche Aristoteles vorgezeichnet hatte. Dennoch wird es keiner Rechtfertigung
bedürfen, wenn wir auch auf seine Auffassung und Begründung des streitigen
Punktes eingehen. Denn dieser Schüler steht seinem Meister mit voller geistiger
Selbständigkeit gegenüber. Er ist nicht einer von denen, die ans Worte schwören.
Jedermann kennt seinen Ausspruch: „Mit dem Ansetzn des Aristoteles wollte
ich bald fertig werden, wenn ich es nur auch mit seinen Gründen zu werden
wüßte" (Dramaturgie, 74. Stück).

Lessing ist nicht gleich anfangs in das Verständniß dieser Stelle des Aristoteles
^»gedrungen. Aristoteles schien ihm eine falsche Erklärung des Mitleids zu
Grunde gelegt zu haben. „Ist es wahr — schreibt er an Mendelssohn (18. De¬
cember 1756) - daß das Unglück eines allzu tugendhaften Menschen Entsetzen
und Abscheu erweckt? Wenn es wahr ist, so müssen Entsetzen und Abscheu der
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[0253] Lessmgstildion, untergeschoben >vordem sei, den verweise ich eins seine eignen Worte. Daß er seine «^«5>»« nicht als ein nebenherspielendes Verschulden, sondern als die Ursache der Katastrophe ansieht, drückt er selbst im 13. Capitel seiner Poetik so aus: „So bleibt also nur ein mittlerer Charakter übrig, d, h. ein solcher, der sich weder durch Vollkommenheit und Gerechtigkeit auszeichnet, »och auch, durch Laster und Bosheit ins Unglück stürzt, sondern nur durch einen bestimmten Fehler." Und einige Zeilen weiter macht er noch einmal daraus aufmerksam daß die Katastrophe nicht durch Bosheit verschuldet sein dürfe, «U« ->V «^in^r/«^ ^-7«^ (sondern durch einen großen Fehler). Hier ist das ursächliche Ver¬ hältniß der Katastrophe zur Schuld aufs unzweideutigste betont, und nur darin unterscheidet sich Aristoteles von der Aesthetik unserer Tage, daß er diese Er¬ kenntniß nicht unvermittelt in positiver Behauptung hinstellt, sondern daß er, wie das seine Gewohnheit ist, an der Hand der Erfahrung vorschreitet und nun in diesem Falle in Form eines kritischen Subtractiousexempels aus einer Reihe gedachter Fälle den einzig möglichen ausscheidet. Und darin handelte er vielleicht Weiser als wir Neuern. Wenigstens ist die allgemeine Form, welche wir dem Satze von der tragischen Schuld gegeben haben, daß sie nämlich stets die noth¬ wendige Ursache der Katastrophe sein müsse, sehr leicht einer großen Mißdeutung ausgesetzt. Wird nicht auch beim vollendeten Bösewicht die Katastrophe die unabwendbare Folge seiner Schuld sein? Und wer wird behaupten, daß der Bösewicht ein würdiger Gegenstand des tragischen Heldenthums sei? Aristoteles hat durch seine Fassung ein solches Mißverständniß ausgeschlossen. Und Lessing? Ich glaube seine Sache uicht aus den Augen verloren zu haben, wenn ich für seinen großen Lehrmeister eine Lanze einlegte. Er folgt auch hier wie überall im Bereiche der Lehre von der Tragödie den Bahnen, welche Aristoteles vorgezeichnet hatte. Dennoch wird es keiner Rechtfertigung bedürfen, wenn wir auch auf seine Auffassung und Begründung des streitigen Punktes eingehen. Denn dieser Schüler steht seinem Meister mit voller geistiger Selbständigkeit gegenüber. Er ist nicht einer von denen, die ans Worte schwören. Jedermann kennt seinen Ausspruch: „Mit dem Ansetzn des Aristoteles wollte ich bald fertig werden, wenn ich es nur auch mit seinen Gründen zu werden wüßte" (Dramaturgie, 74. Stück). Lessing ist nicht gleich anfangs in das Verständniß dieser Stelle des Aristoteles ^»gedrungen. Aristoteles schien ihm eine falsche Erklärung des Mitleids zu Grunde gelegt zu haben. „Ist es wahr — schreibt er an Mendelssohn (18. De¬ cember 1756) - daß das Unglück eines allzu tugendhaften Menschen Entsetzen und Abscheu erweckt? Wenn es wahr ist, so müssen Entsetzen und Abscheu der höchste Grad des Mitleids sein, welches sie doch nicht sind." Indessen die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/253>, abgerufen am 28.12.2024.