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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Lessiiigstiidicn.

Strophe mit der von ihm geforderten "^"^re" nicht. Weshalb ist sie ihm
denn aber doch "ein unverbrüchliches Bestandtheil dramatischer Chamkterzeich-
nnng?" "Einzig deshalb -- antwortet Hettner -- weil die Tragödie (des
Aristoteles) nur mittlere und gemischte Charaktere gebrauchen kann, damit der
Zuschauer in deren Geschick sich selbst erkenne und mit ihnen leide/' Und wie
kommt es, daß nur diese mittlern Charaktere fähig sind, die Wirkung des Mit¬
leids auf den Zuschauer auszuüben, warum sind der vollendet tugendhafte wie
der vollendete Bösewicht gleich wenig dazu im Staude? Weil das Unglück
des Bösewichts nur unser Gerechtigkeitsgefühl*) befriedigt, das Unglück des
Tugendhaften aber gräßlich ist. Weshalb erschien aber das Unglück des Tugend¬
haften dem Aristoteles gräßlich? Auf diese Frage sucht man bei Hettner ver¬
gebens nach einer Antwort, er hat sie sich offenbar nicht vorgelegt. Und doch ist
klar, daß an ihr zuletzt die ganze Theorie des Aristoteles von der "^"^re"- hängt.

Aristoteles selbst hat für diese Behauptung keinen Grund angegeben. Sie
erschien ihm also offenbar selbstverständlich, und sie ergiebt sich auch mit völliger
Sicherheit aus dem Zusammenhange. Den Satz nämlich, daß das Unglück des
Bösewichts nur unser Gerechtigkeitsgefühl befriedige, nicht aber unser Mitleid
und unsre Furcht erregen könne, hat Aristoteles zum Glück nicht unterlassen zu
begründen. "Das Mitleid," sagt er, "verlange einen, der unverdient leide, die
Furcht aber einen unsersgleicheu." Man könnte versucht sein, in diesem "un¬
verdient" einen Widerspruch mit dem ^"^v zu sehen, welches nach Aristoteles
gerade das Schicksal des schuldlosen erregt. Aber nichts weniger als das.
Beiden Behauptungen liegt vielmehr unausgesprochen der Satz zu Grunde, daß
Schuld und Unglück in einem ganz bestimmten Verhältniß zu einander stehen
müssen, wenn die Wirkung des Mitleids möglich sein soll. Beim völlig ent¬
arteten Bösewicht überwiegt die Schuld zu sehr das Unglück, beim ganz tugend¬
haften das Unglück zu sehr die Schuld, als daß in irgend einem dieser Fälle
Mitleid entstehen konnte. Das Resultat ist: Schuld und Unglück müssen ein¬
ander entsprechen, das Unglück des Helden im Trauerspiel darf weder größer
noch kleiner sein als seine Schuld (eher jedoch größer als kleiner, fügt Aristoteles
einschränkend hinzu), wenn wir Mitleid für ihn fühlen sollen. Ist das aber
etwas andres als die Theorie von der tragischen Schuld, auf die unsre neure
Aesthetik so stolz ist?

Wer noch Zweifel hegen sollte, ob mit dieser Auffassung wirklich der sin"
des alten Philosophen getroffen ist, ob ihm nicht vielleicht ein fremder Gedanke



*) So die Uebersetzung der Neuer". Hettner übersetzt mit Lessing das ^"os^w/rov
durch! erregt unsere menschliche Theilnahme.
Lessiiigstiidicn.

Strophe mit der von ihm geforderten «^«^re« nicht. Weshalb ist sie ihm
denn aber doch „ein unverbrüchliches Bestandtheil dramatischer Chamkterzeich-
nnng?" „Einzig deshalb — antwortet Hettner — weil die Tragödie (des
Aristoteles) nur mittlere und gemischte Charaktere gebrauchen kann, damit der
Zuschauer in deren Geschick sich selbst erkenne und mit ihnen leide/' Und wie
kommt es, daß nur diese mittlern Charaktere fähig sind, die Wirkung des Mit¬
leids auf den Zuschauer auszuüben, warum sind der vollendet tugendhafte wie
der vollendete Bösewicht gleich wenig dazu im Staude? Weil das Unglück
des Bösewichts nur unser Gerechtigkeitsgefühl*) befriedigt, das Unglück des
Tugendhaften aber gräßlich ist. Weshalb erschien aber das Unglück des Tugend¬
haften dem Aristoteles gräßlich? Auf diese Frage sucht man bei Hettner ver¬
gebens nach einer Antwort, er hat sie sich offenbar nicht vorgelegt. Und doch ist
klar, daß an ihr zuletzt die ganze Theorie des Aristoteles von der «^«^re«- hängt.

Aristoteles selbst hat für diese Behauptung keinen Grund angegeben. Sie
erschien ihm also offenbar selbstverständlich, und sie ergiebt sich auch mit völliger
Sicherheit aus dem Zusammenhange. Den Satz nämlich, daß das Unglück des
Bösewichts nur unser Gerechtigkeitsgefühl befriedige, nicht aber unser Mitleid
und unsre Furcht erregen könne, hat Aristoteles zum Glück nicht unterlassen zu
begründen. „Das Mitleid," sagt er, „verlange einen, der unverdient leide, die
Furcht aber einen unsersgleicheu." Man könnte versucht sein, in diesem „un¬
verdient" einen Widerspruch mit dem ^«^v zu sehen, welches nach Aristoteles
gerade das Schicksal des schuldlosen erregt. Aber nichts weniger als das.
Beiden Behauptungen liegt vielmehr unausgesprochen der Satz zu Grunde, daß
Schuld und Unglück in einem ganz bestimmten Verhältniß zu einander stehen
müssen, wenn die Wirkung des Mitleids möglich sein soll. Beim völlig ent¬
arteten Bösewicht überwiegt die Schuld zu sehr das Unglück, beim ganz tugend¬
haften das Unglück zu sehr die Schuld, als daß in irgend einem dieser Fälle
Mitleid entstehen konnte. Das Resultat ist: Schuld und Unglück müssen ein¬
ander entsprechen, das Unglück des Helden im Trauerspiel darf weder größer
noch kleiner sein als seine Schuld (eher jedoch größer als kleiner, fügt Aristoteles
einschränkend hinzu), wenn wir Mitleid für ihn fühlen sollen. Ist das aber
etwas andres als die Theorie von der tragischen Schuld, auf die unsre neure
Aesthetik so stolz ist?

Wer noch Zweifel hegen sollte, ob mit dieser Auffassung wirklich der sin»
des alten Philosophen getroffen ist, ob ihm nicht vielleicht ein fremder Gedanke



*) So die Uebersetzung der Neuer». Hettner übersetzt mit Lessing das ^»os^w/rov
durch! erregt unsere menschliche Theilnahme.
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[0252] Lessiiigstiidicn. Strophe mit der von ihm geforderten «^«^re« nicht. Weshalb ist sie ihm denn aber doch „ein unverbrüchliches Bestandtheil dramatischer Chamkterzeich- nnng?" „Einzig deshalb — antwortet Hettner — weil die Tragödie (des Aristoteles) nur mittlere und gemischte Charaktere gebrauchen kann, damit der Zuschauer in deren Geschick sich selbst erkenne und mit ihnen leide/' Und wie kommt es, daß nur diese mittlern Charaktere fähig sind, die Wirkung des Mit¬ leids auf den Zuschauer auszuüben, warum sind der vollendet tugendhafte wie der vollendete Bösewicht gleich wenig dazu im Staude? Weil das Unglück des Bösewichts nur unser Gerechtigkeitsgefühl*) befriedigt, das Unglück des Tugendhaften aber gräßlich ist. Weshalb erschien aber das Unglück des Tugend¬ haften dem Aristoteles gräßlich? Auf diese Frage sucht man bei Hettner ver¬ gebens nach einer Antwort, er hat sie sich offenbar nicht vorgelegt. Und doch ist klar, daß an ihr zuletzt die ganze Theorie des Aristoteles von der «^«^re«- hängt. Aristoteles selbst hat für diese Behauptung keinen Grund angegeben. Sie erschien ihm also offenbar selbstverständlich, und sie ergiebt sich auch mit völliger Sicherheit aus dem Zusammenhange. Den Satz nämlich, daß das Unglück des Bösewichts nur unser Gerechtigkeitsgefühl befriedige, nicht aber unser Mitleid und unsre Furcht erregen könne, hat Aristoteles zum Glück nicht unterlassen zu begründen. „Das Mitleid," sagt er, „verlange einen, der unverdient leide, die Furcht aber einen unsersgleicheu." Man könnte versucht sein, in diesem „un¬ verdient" einen Widerspruch mit dem ^«^v zu sehen, welches nach Aristoteles gerade das Schicksal des schuldlosen erregt. Aber nichts weniger als das. Beiden Behauptungen liegt vielmehr unausgesprochen der Satz zu Grunde, daß Schuld und Unglück in einem ganz bestimmten Verhältniß zu einander stehen müssen, wenn die Wirkung des Mitleids möglich sein soll. Beim völlig ent¬ arteten Bösewicht überwiegt die Schuld zu sehr das Unglück, beim ganz tugend¬ haften das Unglück zu sehr die Schuld, als daß in irgend einem dieser Fälle Mitleid entstehen konnte. Das Resultat ist: Schuld und Unglück müssen ein¬ ander entsprechen, das Unglück des Helden im Trauerspiel darf weder größer noch kleiner sein als seine Schuld (eher jedoch größer als kleiner, fügt Aristoteles einschränkend hinzu), wenn wir Mitleid für ihn fühlen sollen. Ist das aber etwas andres als die Theorie von der tragischen Schuld, auf die unsre neure Aesthetik so stolz ist? Wer noch Zweifel hegen sollte, ob mit dieser Auffassung wirklich der sin» des alten Philosophen getroffen ist, ob ihm nicht vielleicht ein fremder Gedanke *) So die Uebersetzung der Neuer». Hettner übersetzt mit Lessing das ^»os^w/rov durch! erregt unsere menschliche Theilnahme.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/252>, abgerufen am 28.12.2024.