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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Lessingstudicn.

Forderung einer Schuld war Lessing damit nicht gewillt, ans der Theorie des
Trauerspiels zu streichen, "Aber warum diese "^"^re", wie sie Aristoteles nennt?
Etwa, weil er ohne sie vollkommen sein würde, und das Unglück eines voll¬
kommenen Menschen Abscheu erweckt? Gewiß nicht. Ich glaube, die einzig
richtige Ursache gefunden zu haben; sie ist diese: weil ohne den Fehler, der das
Unglück über ihn zieht, sein Charakter und sein Unglück kein Ganzes ausmachen
würden, weil das eine nicht in dein andern gegründet wäre, und wir jedes
von diesen zwei Stücken besonders denken würden," In diesen Sätzen sind
Irrthum und Wahrheit aufs seltsamste in einander geschlungen. Der Grund,
aus welchem Aristoteles seine "^"?r^" forderte, war Lessing nicht klar, von der
Nothwendigkeit dieser Schuld war er aber trotzdem überzeugt. Er construirte
daher aus sich selbst die, wie er glaubte, bei Aristoteles fehlende Ursache hinzu,
und diese Ursache war -- keine andre als der wahre Grund des Aristoteles.
Gewiß kein geringes Zeugniß für die Giltigkeit dieses Satzes, daß bei seiner
Begründung zwei solche Männer nicht bloß unabhängig von einander, sondern
der eine, wie er glaubte, sogar im Gegensatz zu dem andern zu dem nämlichen
Resultate gelangten. --

Dies ist der Brief, von welchem Hettner sagt, daß Lessing in ihm dein
tiefern Schuldbegriffe der modernen Tragödie nahe komme. Er bedauert nur,
daß Lessing später niemals wieder auf diesen Gedanken zurückgegriffen habe.
So berechtigt die erste dieser Behauptungen ist, so grundlos ist die zweite.
Lessing erkannte vielmehr später selbst, daß seine Ursache der tragischen Schuld
und die des Aristoteles sich vollkommen deckten, daß eben deshalb das Unglück
eines allzu tugendhaften Mannes Entsetzen und Abscheu erweckt, weil es mit
seiner Schuld kein Ganzes ausmacht. Und woher die Berechtigung zu dieser
Annahme? Sie liegt darin, daß Lessing, so oft er in der Dramaturgie auf das
Unglück eines schuldlosen im Trauerspiel zu sprechen kommt, niemals gegen
die Ansicht des Aristoteles von dem ^""(>M, dem Gräßlichen, welches ein solches
Schicksal errege, Verwahrung einlegt, sie vielmehr ausdrücklich zu der seinigen macht.
Hettner selbst führt eine solche Stelle aus dem 82. Stücke der Dramaturgie an.

Doch daß man mich keines Sophismas beschuldigen könne! Es wäre ja
eine Möglichkeit, daß Lessing seine frühere richtige Ansicht aufgegeben, daß er
die irrige des griechischen Philosophen ergriffen hätte. Und dies ist offenbar
Hettners Ansicht. Aber auch gegen diesen EinWurf glauben wir gewappnet zu
sein. Gesetzt, Aristoteles kenne den ursächlichen Zusammenhang von Schuld
und Katastrophe nicht, so ist damit für Lessings Sache noch nichts bewiesen.
Es findet sich in der Dramaturgie eine Stelle (79. Stück), in der Lessing seine
alte Ansicht, die er in jenem Briefe an Mendelssohn niedergelegt, aufs neue


Lessingstudicn.

Forderung einer Schuld war Lessing damit nicht gewillt, ans der Theorie des
Trauerspiels zu streichen, „Aber warum diese «^«^re«, wie sie Aristoteles nennt?
Etwa, weil er ohne sie vollkommen sein würde, und das Unglück eines voll¬
kommenen Menschen Abscheu erweckt? Gewiß nicht. Ich glaube, die einzig
richtige Ursache gefunden zu haben; sie ist diese: weil ohne den Fehler, der das
Unglück über ihn zieht, sein Charakter und sein Unglück kein Ganzes ausmachen
würden, weil das eine nicht in dein andern gegründet wäre, und wir jedes
von diesen zwei Stücken besonders denken würden," In diesen Sätzen sind
Irrthum und Wahrheit aufs seltsamste in einander geschlungen. Der Grund,
aus welchem Aristoteles seine «^«?r^« forderte, war Lessing nicht klar, von der
Nothwendigkeit dieser Schuld war er aber trotzdem überzeugt. Er construirte
daher aus sich selbst die, wie er glaubte, bei Aristoteles fehlende Ursache hinzu,
und diese Ursache war — keine andre als der wahre Grund des Aristoteles.
Gewiß kein geringes Zeugniß für die Giltigkeit dieses Satzes, daß bei seiner
Begründung zwei solche Männer nicht bloß unabhängig von einander, sondern
der eine, wie er glaubte, sogar im Gegensatz zu dem andern zu dem nämlichen
Resultate gelangten. —

Dies ist der Brief, von welchem Hettner sagt, daß Lessing in ihm dein
tiefern Schuldbegriffe der modernen Tragödie nahe komme. Er bedauert nur,
daß Lessing später niemals wieder auf diesen Gedanken zurückgegriffen habe.
So berechtigt die erste dieser Behauptungen ist, so grundlos ist die zweite.
Lessing erkannte vielmehr später selbst, daß seine Ursache der tragischen Schuld
und die des Aristoteles sich vollkommen deckten, daß eben deshalb das Unglück
eines allzu tugendhaften Mannes Entsetzen und Abscheu erweckt, weil es mit
seiner Schuld kein Ganzes ausmacht. Und woher die Berechtigung zu dieser
Annahme? Sie liegt darin, daß Lessing, so oft er in der Dramaturgie auf das
Unglück eines schuldlosen im Trauerspiel zu sprechen kommt, niemals gegen
die Ansicht des Aristoteles von dem ^»«(>M, dem Gräßlichen, welches ein solches
Schicksal errege, Verwahrung einlegt, sie vielmehr ausdrücklich zu der seinigen macht.
Hettner selbst führt eine solche Stelle aus dem 82. Stücke der Dramaturgie an.

Doch daß man mich keines Sophismas beschuldigen könne! Es wäre ja
eine Möglichkeit, daß Lessing seine frühere richtige Ansicht aufgegeben, daß er
die irrige des griechischen Philosophen ergriffen hätte. Und dies ist offenbar
Hettners Ansicht. Aber auch gegen diesen EinWurf glauben wir gewappnet zu
sein. Gesetzt, Aristoteles kenne den ursächlichen Zusammenhang von Schuld
und Katastrophe nicht, so ist damit für Lessings Sache noch nichts bewiesen.
Es findet sich in der Dramaturgie eine Stelle (79. Stück), in der Lessing seine
alte Ansicht, die er in jenem Briefe an Mendelssohn niedergelegt, aufs neue


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[0254] Lessingstudicn. Forderung einer Schuld war Lessing damit nicht gewillt, ans der Theorie des Trauerspiels zu streichen, „Aber warum diese «^«^re«, wie sie Aristoteles nennt? Etwa, weil er ohne sie vollkommen sein würde, und das Unglück eines voll¬ kommenen Menschen Abscheu erweckt? Gewiß nicht. Ich glaube, die einzig richtige Ursache gefunden zu haben; sie ist diese: weil ohne den Fehler, der das Unglück über ihn zieht, sein Charakter und sein Unglück kein Ganzes ausmachen würden, weil das eine nicht in dein andern gegründet wäre, und wir jedes von diesen zwei Stücken besonders denken würden," In diesen Sätzen sind Irrthum und Wahrheit aufs seltsamste in einander geschlungen. Der Grund, aus welchem Aristoteles seine «^«?r^« forderte, war Lessing nicht klar, von der Nothwendigkeit dieser Schuld war er aber trotzdem überzeugt. Er construirte daher aus sich selbst die, wie er glaubte, bei Aristoteles fehlende Ursache hinzu, und diese Ursache war — keine andre als der wahre Grund des Aristoteles. Gewiß kein geringes Zeugniß für die Giltigkeit dieses Satzes, daß bei seiner Begründung zwei solche Männer nicht bloß unabhängig von einander, sondern der eine, wie er glaubte, sogar im Gegensatz zu dem andern zu dem nämlichen Resultate gelangten. — Dies ist der Brief, von welchem Hettner sagt, daß Lessing in ihm dein tiefern Schuldbegriffe der modernen Tragödie nahe komme. Er bedauert nur, daß Lessing später niemals wieder auf diesen Gedanken zurückgegriffen habe. So berechtigt die erste dieser Behauptungen ist, so grundlos ist die zweite. Lessing erkannte vielmehr später selbst, daß seine Ursache der tragischen Schuld und die des Aristoteles sich vollkommen deckten, daß eben deshalb das Unglück eines allzu tugendhaften Mannes Entsetzen und Abscheu erweckt, weil es mit seiner Schuld kein Ganzes ausmacht. Und woher die Berechtigung zu dieser Annahme? Sie liegt darin, daß Lessing, so oft er in der Dramaturgie auf das Unglück eines schuldlosen im Trauerspiel zu sprechen kommt, niemals gegen die Ansicht des Aristoteles von dem ^»«(>M, dem Gräßlichen, welches ein solches Schicksal errege, Verwahrung einlegt, sie vielmehr ausdrücklich zu der seinigen macht. Hettner selbst führt eine solche Stelle aus dem 82. Stücke der Dramaturgie an. Doch daß man mich keines Sophismas beschuldigen könne! Es wäre ja eine Möglichkeit, daß Lessing seine frühere richtige Ansicht aufgegeben, daß er die irrige des griechischen Philosophen ergriffen hätte. Und dies ist offenbar Hettners Ansicht. Aber auch gegen diesen EinWurf glauben wir gewappnet zu sein. Gesetzt, Aristoteles kenne den ursächlichen Zusammenhang von Schuld und Katastrophe nicht, so ist damit für Lessings Sache noch nichts bewiesen. Es findet sich in der Dramaturgie eine Stelle (79. Stück), in der Lessing seine alte Ansicht, die er in jenem Briefe an Mendelssohn niedergelegt, aufs neue

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/254>, abgerufen am 28.12.2024.