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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Lessingstudieil.

bezeichnet, dürfen wir vergessen, daß ihm die Moralwirkung nicht mehr eine zufällige
stoffliche war. sondern daß er sie in das Wesen des Trauerspiels selbst zurückver-
legte. Und in diesem Punkte steht ihm nicht bloß die Autorität seines griechischen
Lehrmeisters zur Seite, sondern auch das Wort Schillers. Mit seiner Theorie
von der Wirkung der Tragödie hat Lessing den Boden geebnet, auf dem sich die
reinere ästhetische Auffassung Schillers und auch die Goethes erbauen konnte.




Das tragische Mitleid ist es, auf welches Lessing die ethische Wirkung des
Trauerspiels zurückführt. "Die Tragödie -- so definirt er im 77. Stück der
Dramaturgie -- ist ein Gedicht, welches Mitleid erregt." Und schon im Jahre
1756 schrieb er an Nievlcn (13. Nov.): "Die ganze Kunst des tragischen Dichters
geht auf die sichere Erregung und Dauer des einzigen Mitleids." Dieser An¬
schauung ist Lessing sein ganzes Leben hindurch treu geblieben, sie hatte für ihn
die Giltigkeit einer unfehlbaren Wahrheit. Die ethische Wirkung erschien ihm
doch immer nur als das entferntere, wenn auch das höchste Ziel des Dichters,
seine unmittelbare Absicht dagegen setzte er in die Erregung des Mitleids. Für
uns handelt es sich darum, nachdem wir im vorigen Lessings Anschauung von
der ethischen höher" Wirkung des Trauerspiels gewürdigt haben, nun auch
seine Theorie von der primürcu Wirkung der Tragödie zu prüfen. Denn die
crie ist ihm die Vorbedingung der andern. Auf das tragische Mitleid hat er
seine ganze Lehre von der Tragödie aufgebaut. Hier ist der Angelpunkt seiner
Lehre, und wer die Absicht des Trauerspiels auf das Mitleid mit Erfolg be¬
streitet, hebt das ganze Gebäude Lessings ans den Fugen.

Hermann Hettner ist meines Wissens der erste gewesen, der in seiner
"Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts" (1. Auflage 1864. III. 2.
S. 55y--g56) Lessings Auffassung des tragischen Mitleids bei aller sonstigen
sympathischen Würdigung der Verdienste des Dramatikers wie des Dramaturgen
Lessing vom Standpunkt der heutigen Aesthetik aus einem scharfen Angriff unter-
zogen hat. Ehe wir uns aber seinen Einwendungen zuwenden, ist es nöthig,
Lessings eigene Begründung zu hören, wie sie am zusammenhängendsten und
übersichtlichsten, wenn auch noch nicht in allen Punkten abgeschlossen, in dem
sür seine Entwicklung ans diesem Gebiete so folgenreichen Briefwechsel mit
Nicolai und Mendelssohn (Ende 1756 und Anfang 1757) vorliegt.

Lessings Ausgangspunkt hier so gut wie in der Dramaturgie ist die im
Anschluß an Aristoteles aufgestellte Behauptung, daß der Dichter zwar in seinen
Personen alle Leidenschaften wirken lasse, die sich zur Würde des Stoffes schicken,
nicht so aber in seinen Zuschauer". "Ich frage nicht ob ihn der Poet so weit
bürgt, daß er diese Leidenschaften in der spielenden Person billigt, sondern ob


GrnizboK'n I. 1881. W
Lessingstudieil.

bezeichnet, dürfen wir vergessen, daß ihm die Moralwirkung nicht mehr eine zufällige
stoffliche war. sondern daß er sie in das Wesen des Trauerspiels selbst zurückver-
legte. Und in diesem Punkte steht ihm nicht bloß die Autorität seines griechischen
Lehrmeisters zur Seite, sondern auch das Wort Schillers. Mit seiner Theorie
von der Wirkung der Tragödie hat Lessing den Boden geebnet, auf dem sich die
reinere ästhetische Auffassung Schillers und auch die Goethes erbauen konnte.




Das tragische Mitleid ist es, auf welches Lessing die ethische Wirkung des
Trauerspiels zurückführt. „Die Tragödie — so definirt er im 77. Stück der
Dramaturgie — ist ein Gedicht, welches Mitleid erregt." Und schon im Jahre
1756 schrieb er an Nievlcn (13. Nov.): „Die ganze Kunst des tragischen Dichters
geht auf die sichere Erregung und Dauer des einzigen Mitleids." Dieser An¬
schauung ist Lessing sein ganzes Leben hindurch treu geblieben, sie hatte für ihn
die Giltigkeit einer unfehlbaren Wahrheit. Die ethische Wirkung erschien ihm
doch immer nur als das entferntere, wenn auch das höchste Ziel des Dichters,
seine unmittelbare Absicht dagegen setzte er in die Erregung des Mitleids. Für
uns handelt es sich darum, nachdem wir im vorigen Lessings Anschauung von
der ethischen höher» Wirkung des Trauerspiels gewürdigt haben, nun auch
seine Theorie von der primürcu Wirkung der Tragödie zu prüfen. Denn die
crie ist ihm die Vorbedingung der andern. Auf das tragische Mitleid hat er
seine ganze Lehre von der Tragödie aufgebaut. Hier ist der Angelpunkt seiner
Lehre, und wer die Absicht des Trauerspiels auf das Mitleid mit Erfolg be¬
streitet, hebt das ganze Gebäude Lessings ans den Fugen.

Hermann Hettner ist meines Wissens der erste gewesen, der in seiner
„Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts" (1. Auflage 1864. III. 2.
S. 55y—g56) Lessings Auffassung des tragischen Mitleids bei aller sonstigen
sympathischen Würdigung der Verdienste des Dramatikers wie des Dramaturgen
Lessing vom Standpunkt der heutigen Aesthetik aus einem scharfen Angriff unter-
zogen hat. Ehe wir uns aber seinen Einwendungen zuwenden, ist es nöthig,
Lessings eigene Begründung zu hören, wie sie am zusammenhängendsten und
übersichtlichsten, wenn auch noch nicht in allen Punkten abgeschlossen, in dem
sür seine Entwicklung ans diesem Gebiete so folgenreichen Briefwechsel mit
Nicolai und Mendelssohn (Ende 1756 und Anfang 1757) vorliegt.

Lessings Ausgangspunkt hier so gut wie in der Dramaturgie ist die im
Anschluß an Aristoteles aufgestellte Behauptung, daß der Dichter zwar in seinen
Personen alle Leidenschaften wirken lasse, die sich zur Würde des Stoffes schicken,
nicht so aber in seinen Zuschauer». „Ich frage nicht ob ihn der Poet so weit
bürgt, daß er diese Leidenschaften in der spielenden Person billigt, sondern ob


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[0249] Lessingstudieil. bezeichnet, dürfen wir vergessen, daß ihm die Moralwirkung nicht mehr eine zufällige stoffliche war. sondern daß er sie in das Wesen des Trauerspiels selbst zurückver- legte. Und in diesem Punkte steht ihm nicht bloß die Autorität seines griechischen Lehrmeisters zur Seite, sondern auch das Wort Schillers. Mit seiner Theorie von der Wirkung der Tragödie hat Lessing den Boden geebnet, auf dem sich die reinere ästhetische Auffassung Schillers und auch die Goethes erbauen konnte. Das tragische Mitleid ist es, auf welches Lessing die ethische Wirkung des Trauerspiels zurückführt. „Die Tragödie — so definirt er im 77. Stück der Dramaturgie — ist ein Gedicht, welches Mitleid erregt." Und schon im Jahre 1756 schrieb er an Nievlcn (13. Nov.): „Die ganze Kunst des tragischen Dichters geht auf die sichere Erregung und Dauer des einzigen Mitleids." Dieser An¬ schauung ist Lessing sein ganzes Leben hindurch treu geblieben, sie hatte für ihn die Giltigkeit einer unfehlbaren Wahrheit. Die ethische Wirkung erschien ihm doch immer nur als das entferntere, wenn auch das höchste Ziel des Dichters, seine unmittelbare Absicht dagegen setzte er in die Erregung des Mitleids. Für uns handelt es sich darum, nachdem wir im vorigen Lessings Anschauung von der ethischen höher» Wirkung des Trauerspiels gewürdigt haben, nun auch seine Theorie von der primürcu Wirkung der Tragödie zu prüfen. Denn die crie ist ihm die Vorbedingung der andern. Auf das tragische Mitleid hat er seine ganze Lehre von der Tragödie aufgebaut. Hier ist der Angelpunkt seiner Lehre, und wer die Absicht des Trauerspiels auf das Mitleid mit Erfolg be¬ streitet, hebt das ganze Gebäude Lessings ans den Fugen. Hermann Hettner ist meines Wissens der erste gewesen, der in seiner „Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts" (1. Auflage 1864. III. 2. S. 55y—g56) Lessings Auffassung des tragischen Mitleids bei aller sonstigen sympathischen Würdigung der Verdienste des Dramatikers wie des Dramaturgen Lessing vom Standpunkt der heutigen Aesthetik aus einem scharfen Angriff unter- zogen hat. Ehe wir uns aber seinen Einwendungen zuwenden, ist es nöthig, Lessings eigene Begründung zu hören, wie sie am zusammenhängendsten und übersichtlichsten, wenn auch noch nicht in allen Punkten abgeschlossen, in dem sür seine Entwicklung ans diesem Gebiete so folgenreichen Briefwechsel mit Nicolai und Mendelssohn (Ende 1756 und Anfang 1757) vorliegt. Lessings Ausgangspunkt hier so gut wie in der Dramaturgie ist die im Anschluß an Aristoteles aufgestellte Behauptung, daß der Dichter zwar in seinen Personen alle Leidenschaften wirken lasse, die sich zur Würde des Stoffes schicken, nicht so aber in seinen Zuschauer». „Ich frage nicht ob ihn der Poet so weit bürgt, daß er diese Leidenschaften in der spielenden Person billigt, sondern ob GrnizboK'n I. 1881. W

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/249>, abgerufen am 27.12.2024.