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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Der Parlamentarismus in Lngland.

geben, und nur 171 Wahlkreise waren unabhängig. 11 Parlnmentssitze wurden
vererbt und verkauft wie Kirchenstühle."

Eine Volksvertretung nach der alten deutschen Rechtsidee darf keinen passiven
Census kennen, weil er eine Beschränkung des Mandanten ist. Nur das ist zu
verlangen, daß der Vertreter die Bedürfnisse seines Wahlkreises kennen, also
Einwohner desselben sein muß, und das gemeine Recht verlangte das in der
That. Das Parlament aber dispensirte sich davon, wobei ihm die weder im
gemeinen Rechte noch in einem Statut begründete revolutionäre Doctrin zu
Hilfe kam, die nicht eine Vertretung der wirtschaftlichen Gruppe", sondern
des "Volkes" wollte und den Wahlkreis nicht als den Vollmachtgeber, sondern
nur als einen Wahlapparat betrachtete -- eine Auffassung, welche deu wich¬
tigsten Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Repräsentativsysteme
bildete. Ferner wurde die alte Bestimmung, nach welcher der Abgeordnete
eine gewisse Einnahme aus Grundbesitz haben mußte, vor etwa 25 Jahren
aufgehoben. Die Diäten kamen ab, aber wenige Parlamentsmitglieder dienen
ganz umsonst. Jeder hat Aussicht auf eine Anstellung, wenn seine Partei ans
Ruder kommt, und jeder hell herkömmlich die?g,t.rmmZ'ö aller in seinem Wahl¬
bezirke vacant werdenden niedern Ncgierungsämter, d. h. die Regierung stellt
die von ihm für diese empfohlenen an. Sehr einträgliche Stellen fallen in
diese Kategorie, und es kam vor, daß irische Mitglieder mit denselben förm¬
lichen Handel trieben. Etwas ganz gewöhnliches endlich ist es, daß Parla¬
mentsmitglieder sich, wenn ihre Partei an der Regierung ist, für ihre Verwandten
Anstellungen oder Beförderungen in der Verwaltung, in den Colonien, in der
Kirche, im Heere lind auf der Flotte auswirken. Selbst Hume sah darin nichts
Unrechtes.

Gegen diese und andere Mißbräuche entwickelte sich schon vor zweihundert
Jahren eine Reformbewegung, deren früheste Stadien wir hier übergehen
Müssen. Pitt bezeichnete es 1770 als wünschenswert!,, daß die Vertretung
einzelner Grafschaften verstärkt werde, "um ein Gegengewicht gegen verschiedene
verderbte und käufliche Wahlflecken zu gewinnen." Wildes verlangte 1776
Wahlrecht für jeden selbständigen und Ausrottung der "faulen Boroughs."
Der Herzog von Richmond beantragte 1780 im Oberhause allgemeines Stimm¬
recht. Pitt befürwortete 1783 und 1785 Reformen des Wahlrechts, mit denen
es ihm aber nicht Ernst war, Grey 1793, 1797 und 1800. "Die französische
Revolution machte die höhern Klassen der Reform abwendig, und der Krieg
gegen Napoleon zog die Aufmerksamkeit von den innern Zuständen ab. Der
Friede, die Handelskrisen und die Ungeduld der Whigs, endlich wieder einmal
i",ö Amt zu kommen, dazu der Wohlstand der Mittelklasse" und die Vermehrung


Greuzlwtcn I. 1881. 27
Der Parlamentarismus in Lngland.

geben, und nur 171 Wahlkreise waren unabhängig. 11 Parlnmentssitze wurden
vererbt und verkauft wie Kirchenstühle."

Eine Volksvertretung nach der alten deutschen Rechtsidee darf keinen passiven
Census kennen, weil er eine Beschränkung des Mandanten ist. Nur das ist zu
verlangen, daß der Vertreter die Bedürfnisse seines Wahlkreises kennen, also
Einwohner desselben sein muß, und das gemeine Recht verlangte das in der
That. Das Parlament aber dispensirte sich davon, wobei ihm die weder im
gemeinen Rechte noch in einem Statut begründete revolutionäre Doctrin zu
Hilfe kam, die nicht eine Vertretung der wirtschaftlichen Gruppe», sondern
des „Volkes" wollte und den Wahlkreis nicht als den Vollmachtgeber, sondern
nur als einen Wahlapparat betrachtete — eine Auffassung, welche deu wich¬
tigsten Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Repräsentativsysteme
bildete. Ferner wurde die alte Bestimmung, nach welcher der Abgeordnete
eine gewisse Einnahme aus Grundbesitz haben mußte, vor etwa 25 Jahren
aufgehoben. Die Diäten kamen ab, aber wenige Parlamentsmitglieder dienen
ganz umsonst. Jeder hat Aussicht auf eine Anstellung, wenn seine Partei ans
Ruder kommt, und jeder hell herkömmlich die?g,t.rmmZ'ö aller in seinem Wahl¬
bezirke vacant werdenden niedern Ncgierungsämter, d. h. die Regierung stellt
die von ihm für diese empfohlenen an. Sehr einträgliche Stellen fallen in
diese Kategorie, und es kam vor, daß irische Mitglieder mit denselben förm¬
lichen Handel trieben. Etwas ganz gewöhnliches endlich ist es, daß Parla¬
mentsmitglieder sich, wenn ihre Partei an der Regierung ist, für ihre Verwandten
Anstellungen oder Beförderungen in der Verwaltung, in den Colonien, in der
Kirche, im Heere lind auf der Flotte auswirken. Selbst Hume sah darin nichts
Unrechtes.

Gegen diese und andere Mißbräuche entwickelte sich schon vor zweihundert
Jahren eine Reformbewegung, deren früheste Stadien wir hier übergehen
Müssen. Pitt bezeichnete es 1770 als wünschenswert!,, daß die Vertretung
einzelner Grafschaften verstärkt werde, „um ein Gegengewicht gegen verschiedene
verderbte und käufliche Wahlflecken zu gewinnen." Wildes verlangte 1776
Wahlrecht für jeden selbständigen und Ausrottung der „faulen Boroughs."
Der Herzog von Richmond beantragte 1780 im Oberhause allgemeines Stimm¬
recht. Pitt befürwortete 1783 und 1785 Reformen des Wahlrechts, mit denen
es ihm aber nicht Ernst war, Grey 1793, 1797 und 1800. „Die französische
Revolution machte die höhern Klassen der Reform abwendig, und der Krieg
gegen Napoleon zog die Aufmerksamkeit von den innern Zuständen ab. Der
Friede, die Handelskrisen und die Ungeduld der Whigs, endlich wieder einmal
i»,ö Amt zu kommen, dazu der Wohlstand der Mittelklasse» und die Vermehrung


Greuzlwtcn I. 1881. 27
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[0205] Der Parlamentarismus in Lngland. geben, und nur 171 Wahlkreise waren unabhängig. 11 Parlnmentssitze wurden vererbt und verkauft wie Kirchenstühle." Eine Volksvertretung nach der alten deutschen Rechtsidee darf keinen passiven Census kennen, weil er eine Beschränkung des Mandanten ist. Nur das ist zu verlangen, daß der Vertreter die Bedürfnisse seines Wahlkreises kennen, also Einwohner desselben sein muß, und das gemeine Recht verlangte das in der That. Das Parlament aber dispensirte sich davon, wobei ihm die weder im gemeinen Rechte noch in einem Statut begründete revolutionäre Doctrin zu Hilfe kam, die nicht eine Vertretung der wirtschaftlichen Gruppe», sondern des „Volkes" wollte und den Wahlkreis nicht als den Vollmachtgeber, sondern nur als einen Wahlapparat betrachtete — eine Auffassung, welche deu wich¬ tigsten Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Repräsentativsysteme bildete. Ferner wurde die alte Bestimmung, nach welcher der Abgeordnete eine gewisse Einnahme aus Grundbesitz haben mußte, vor etwa 25 Jahren aufgehoben. Die Diäten kamen ab, aber wenige Parlamentsmitglieder dienen ganz umsonst. Jeder hat Aussicht auf eine Anstellung, wenn seine Partei ans Ruder kommt, und jeder hell herkömmlich die?g,t.rmmZ'ö aller in seinem Wahl¬ bezirke vacant werdenden niedern Ncgierungsämter, d. h. die Regierung stellt die von ihm für diese empfohlenen an. Sehr einträgliche Stellen fallen in diese Kategorie, und es kam vor, daß irische Mitglieder mit denselben förm¬ lichen Handel trieben. Etwas ganz gewöhnliches endlich ist es, daß Parla¬ mentsmitglieder sich, wenn ihre Partei an der Regierung ist, für ihre Verwandten Anstellungen oder Beförderungen in der Verwaltung, in den Colonien, in der Kirche, im Heere lind auf der Flotte auswirken. Selbst Hume sah darin nichts Unrechtes. Gegen diese und andere Mißbräuche entwickelte sich schon vor zweihundert Jahren eine Reformbewegung, deren früheste Stadien wir hier übergehen Müssen. Pitt bezeichnete es 1770 als wünschenswert!,, daß die Vertretung einzelner Grafschaften verstärkt werde, „um ein Gegengewicht gegen verschiedene verderbte und käufliche Wahlflecken zu gewinnen." Wildes verlangte 1776 Wahlrecht für jeden selbständigen und Ausrottung der „faulen Boroughs." Der Herzog von Richmond beantragte 1780 im Oberhause allgemeines Stimm¬ recht. Pitt befürwortete 1783 und 1785 Reformen des Wahlrechts, mit denen es ihm aber nicht Ernst war, Grey 1793, 1797 und 1800. „Die französische Revolution machte die höhern Klassen der Reform abwendig, und der Krieg gegen Napoleon zog die Aufmerksamkeit von den innern Zuständen ab. Der Friede, die Handelskrisen und die Ungeduld der Whigs, endlich wieder einmal i»,ö Amt zu kommen, dazu der Wohlstand der Mittelklasse» und die Vermehrung Greuzlwtcn I. 1881. 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/205>, abgerufen am 27.12.2024.