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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Der Parlamentarismus in England.

des beweglichen Vermögens brachten es zu der Reformbill." (Vgl. Endymion
I, 42.) "Dieselbe führte für alle Städte einen gleichmäßigen Census von
10 Pfd. Miethe ein. Auf dem Lande behielten die ?röstioläör ihr Wahlrecht.
Für andere sollte ein sehr complicirter Census gelten . . . Der bloße Miether
oder Pächter sollte nur Wühler sein, wenn er mindestens 50 Pfd. Miethe zahlte...
(Endymion I, 43.) An dem Ideal einer Verfassung gemessen, ist die Reformbill
eine Ausgeburt von Willkür und roher Empirie, ganz abgesehen von der groben
Parteilichkeit, mit der die faulen Flecken der Tories zerstört, die der Whigs
erhalten wurden . . . Daß man sich mit Zahlen behelfen mußte, während man
Qualitäten haben wollte, daß man 10 oder 60 Pfd. Miethe als Kennzeichen
staatsbürgerlicher Tüchtigkeit ansah, war ein Beweis, daß das Recht seine or¬
ganische Natur verloren hatte."

Russell, der Urheber der Reformbill, besaß nicht die Phantasie, die zum
großen Gesetzgeber gehört, nicht das Vermögen, in der Mannichfaltigkeit der
Erscheinungen das Einfache zu sehen, sich Leben zu vergegenwärtigen. Nach
zwanzig Jahren wollte er das Werk, das er 1832 für endgiltig erklärt hatte,
weiter führen, aber seine Entwürfe von 1852 und 1854 waren todtgeborene
Kinder, Abschlagszahlungen auf die Forderungen des Chartismus, der sich rasch
im Sande verlief, als die Noth der Arbeitermassen leidlichem Wohlbefinden ge¬
wichen war.

Auch die spätern Reformen haben den Charakter des Parlaments nicht
wesentlich geändert, das alte Recht nicht entfernt wieder zur Geltung gebracht.
Auch sie sind nur Experimente. Dies gilt auch von der Isx visi-asU, die 1867
von den Tories dem Parlamente vorgelegt wurde. Dieselbe kannte ursprünglich
nur ein Haushalter-Wahlrecht mit Hindernissen. Indem aber die Whigs wie
die Tories, um populärer zu werden, einander im Befürworter eines Wahl¬
rechts der I1on8on0lävr ohne alle Verkümmerung überboten, fiel eine Beschränkung
nach der andern. Als dann jedoch das neue Wahlgesetz zum ersten Male zur
Anwendung kam, gebar es wie der kreisende Berg nur eine Maus. Unter den
658 Parlamentsmitgliedern befanden sich 267 Söhne aristokratischer Familien.
Von dem Neste fielen auf die Eisenbahndirectoren nicht weniger als 121 und
auf den Handelsstand 116 Plätze. Die übrigen Mandate waren Juristen oder
Glückskindern vom gestrigen Tage zugefallen; die letztem pflegen sich die
Würde eines Nömbsr zu erkaufen, weil sie ihrem Reichthum einen bessern Ge¬
ruch verleiht. Staatsmänner von Beruf waren kaum vier Dutzend darunter,
zünftige Denker konnte man an den Fingern herzählen (was beiläufig kein
sehr großes Unglück war), und die Arbeiter glänzten durch ihre gänzliche Ab¬
wesenheit -- sie hatten eben das zum Gewähltwerden erforderliche Geld, das


Der Parlamentarismus in England.

des beweglichen Vermögens brachten es zu der Reformbill." (Vgl. Endymion
I, 42.) „Dieselbe führte für alle Städte einen gleichmäßigen Census von
10 Pfd. Miethe ein. Auf dem Lande behielten die ?röstioläör ihr Wahlrecht.
Für andere sollte ein sehr complicirter Census gelten . . . Der bloße Miether
oder Pächter sollte nur Wühler sein, wenn er mindestens 50 Pfd. Miethe zahlte...
(Endymion I, 43.) An dem Ideal einer Verfassung gemessen, ist die Reformbill
eine Ausgeburt von Willkür und roher Empirie, ganz abgesehen von der groben
Parteilichkeit, mit der die faulen Flecken der Tories zerstört, die der Whigs
erhalten wurden . . . Daß man sich mit Zahlen behelfen mußte, während man
Qualitäten haben wollte, daß man 10 oder 60 Pfd. Miethe als Kennzeichen
staatsbürgerlicher Tüchtigkeit ansah, war ein Beweis, daß das Recht seine or¬
ganische Natur verloren hatte."

Russell, der Urheber der Reformbill, besaß nicht die Phantasie, die zum
großen Gesetzgeber gehört, nicht das Vermögen, in der Mannichfaltigkeit der
Erscheinungen das Einfache zu sehen, sich Leben zu vergegenwärtigen. Nach
zwanzig Jahren wollte er das Werk, das er 1832 für endgiltig erklärt hatte,
weiter führen, aber seine Entwürfe von 1852 und 1854 waren todtgeborene
Kinder, Abschlagszahlungen auf die Forderungen des Chartismus, der sich rasch
im Sande verlief, als die Noth der Arbeitermassen leidlichem Wohlbefinden ge¬
wichen war.

Auch die spätern Reformen haben den Charakter des Parlaments nicht
wesentlich geändert, das alte Recht nicht entfernt wieder zur Geltung gebracht.
Auch sie sind nur Experimente. Dies gilt auch von der Isx visi-asU, die 1867
von den Tories dem Parlamente vorgelegt wurde. Dieselbe kannte ursprünglich
nur ein Haushalter-Wahlrecht mit Hindernissen. Indem aber die Whigs wie
die Tories, um populärer zu werden, einander im Befürworter eines Wahl¬
rechts der I1on8on0lävr ohne alle Verkümmerung überboten, fiel eine Beschränkung
nach der andern. Als dann jedoch das neue Wahlgesetz zum ersten Male zur
Anwendung kam, gebar es wie der kreisende Berg nur eine Maus. Unter den
658 Parlamentsmitgliedern befanden sich 267 Söhne aristokratischer Familien.
Von dem Neste fielen auf die Eisenbahndirectoren nicht weniger als 121 und
auf den Handelsstand 116 Plätze. Die übrigen Mandate waren Juristen oder
Glückskindern vom gestrigen Tage zugefallen; die letztem pflegen sich die
Würde eines Nömbsr zu erkaufen, weil sie ihrem Reichthum einen bessern Ge¬
ruch verleiht. Staatsmänner von Beruf waren kaum vier Dutzend darunter,
zünftige Denker konnte man an den Fingern herzählen (was beiläufig kein
sehr großes Unglück war), und die Arbeiter glänzten durch ihre gänzliche Ab¬
wesenheit — sie hatten eben das zum Gewähltwerden erforderliche Geld, das


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[0206] Der Parlamentarismus in England. des beweglichen Vermögens brachten es zu der Reformbill." (Vgl. Endymion I, 42.) „Dieselbe führte für alle Städte einen gleichmäßigen Census von 10 Pfd. Miethe ein. Auf dem Lande behielten die ?röstioläör ihr Wahlrecht. Für andere sollte ein sehr complicirter Census gelten . . . Der bloße Miether oder Pächter sollte nur Wühler sein, wenn er mindestens 50 Pfd. Miethe zahlte... (Endymion I, 43.) An dem Ideal einer Verfassung gemessen, ist die Reformbill eine Ausgeburt von Willkür und roher Empirie, ganz abgesehen von der groben Parteilichkeit, mit der die faulen Flecken der Tories zerstört, die der Whigs erhalten wurden . . . Daß man sich mit Zahlen behelfen mußte, während man Qualitäten haben wollte, daß man 10 oder 60 Pfd. Miethe als Kennzeichen staatsbürgerlicher Tüchtigkeit ansah, war ein Beweis, daß das Recht seine or¬ ganische Natur verloren hatte." Russell, der Urheber der Reformbill, besaß nicht die Phantasie, die zum großen Gesetzgeber gehört, nicht das Vermögen, in der Mannichfaltigkeit der Erscheinungen das Einfache zu sehen, sich Leben zu vergegenwärtigen. Nach zwanzig Jahren wollte er das Werk, das er 1832 für endgiltig erklärt hatte, weiter führen, aber seine Entwürfe von 1852 und 1854 waren todtgeborene Kinder, Abschlagszahlungen auf die Forderungen des Chartismus, der sich rasch im Sande verlief, als die Noth der Arbeitermassen leidlichem Wohlbefinden ge¬ wichen war. Auch die spätern Reformen haben den Charakter des Parlaments nicht wesentlich geändert, das alte Recht nicht entfernt wieder zur Geltung gebracht. Auch sie sind nur Experimente. Dies gilt auch von der Isx visi-asU, die 1867 von den Tories dem Parlamente vorgelegt wurde. Dieselbe kannte ursprünglich nur ein Haushalter-Wahlrecht mit Hindernissen. Indem aber die Whigs wie die Tories, um populärer zu werden, einander im Befürworter eines Wahl¬ rechts der I1on8on0lävr ohne alle Verkümmerung überboten, fiel eine Beschränkung nach der andern. Als dann jedoch das neue Wahlgesetz zum ersten Male zur Anwendung kam, gebar es wie der kreisende Berg nur eine Maus. Unter den 658 Parlamentsmitgliedern befanden sich 267 Söhne aristokratischer Familien. Von dem Neste fielen auf die Eisenbahndirectoren nicht weniger als 121 und auf den Handelsstand 116 Plätze. Die übrigen Mandate waren Juristen oder Glückskindern vom gestrigen Tage zugefallen; die letztem pflegen sich die Würde eines Nömbsr zu erkaufen, weil sie ihrem Reichthum einen bessern Ge¬ ruch verleiht. Staatsmänner von Beruf waren kaum vier Dutzend darunter, zünftige Denker konnte man an den Fingern herzählen (was beiläufig kein sehr großes Unglück war), und die Arbeiter glänzten durch ihre gänzliche Ab¬ wesenheit — sie hatten eben das zum Gewähltwerden erforderliche Geld, das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/206>, abgerufen am 27.12.2024.