Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.Die destructiven Elemente im Staate, guten, wenn auch manchmal irrthümlichen Absichten entsprungen; auch wird Die destructiven Elemente im Staate, guten, wenn auch manchmal irrthümlichen Absichten entsprungen; auch wird <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0184" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/149168"/> <fw type="header" place="top"> Die destructiven Elemente im Staate,</fw><lb/> <p xml:id="ID_493" prev="#ID_492" next="#ID_494"> guten, wenn auch manchmal irrthümlichen Absichten entsprungen; auch wird<lb/> wenigstens die Illusion einer solchen guten Absicht im Volksgemüthe nicht<lb/> leicht zerstört. Neben dem großen Despotismus kann wirkliche Sittlichkeit, Volks¬<lb/> glück und Fortschritt bestehen. Wenn er nicht die höchsten staatsmännischen<lb/> Ideale befriedigen kann, so ist er andrerseits oft nöthig und völlig am Platze,<lb/> wo diese Ideale im Volke noch ohne jedes Verständniß bleiben würden. Anders<lb/> ist es mit dem kleinen Despotismus der Beamtenwillkür. Auch der dümmste<lb/> Bauer begreift das Unrecht eines bestechlichen Beamten, wenn dieser ihm Unbill<lb/> zugefügt hat. Die Willkür des Beamten kann nie aus sittlichen Motiven her¬<lb/> vorgehen. Das singulüre Unrecht, wie der dadurch erzeugte Haß, nimmt stets<lb/> concrete Gestalt an und wird persönlich. Die gemeinen Motive der Willkür<lb/> enthüllen sich ohne Schwierigkeit dem Auge des Bedrückten. Ein ungerechter,<lb/> herrschsüchtiger oder bestechlicher Richter, zumal an hoher Stelle, zerstört mehr<lb/> Menschenglück, zerrüttet mehr Treu und Glauben, verbittert und empört mehr<lb/> die Volksgeister als eine ganze Reihe von Verfassungsbrüchen, zumal bei einem<lb/> Volke von primitivem politischen Verständniß. In dem neuen Fürstenthum<lb/> Bulgarien kam es bei den ersten Wahlen zu dem ergötzlichen Unsinn, daß der<lb/> Fürst in seiner eignen Hauptstadt als Deputirter gewählt wurde; aber auf den<lb/> betreffenden Wahlzetteln stand zu lesen: „Fürst, wir wählen dich, damit du<lb/> uns gute Polizeioffiziere giebst." Fürwahr für dieses Land ein ganzes Ver¬<lb/> fassungsgesetzbuch in zwei Zeilen. Der große Despotismus des Freihandels hat<lb/> Deutschland Milliarden gekostet; wäre nur der hundertste Theil dein Volke durch<lb/> blutsaugerische russische Beamte genommen worden, so würde das ganze Volk<lb/> gegen diesen kleinen Despotismus revoltiren, während es den großen geduldig<lb/> ertragen und kaum bemerkt hat. Sobald die Beamtenwillkür wie in Rußland<lb/> größere Dimensionen angenommen hat, muß sie naturgemäß zur Coterie werden,<lb/> d. h. zu einem System gegenseitigen Schutzes innerhalb der Kaste oder Clique;<lb/> so lernt das Volk die Träger der Staatsidee als eine gegen sich verbündete<lb/> feindliche Macht kennen, und was das Entsetzlichste ist, es lernt tagtäglich ein¬<lb/> sehen, wie das Unrecht durch das Staatskleid zum Rechte gemacht wird. Das<lb/> russische Unterthanenauge sieht in seinen Beamten eine mit der Mafia und<lb/> Camorra in Italien zum Verwechseln ähnliche Verschwörung wider sich; denn<lb/> ob mich die Camorra brandschatzt und einschüchtert oder der eigene Staats¬<lb/> beamte, kommt ans eins heraus, uur daß das letztere den Vorwurf der Heu¬<lb/> chelei noch außerdem tragen muß. Gegen die Lüge solcher Zustände würde<lb/> jedes thatkräftige Volk revoltiren. Ist es zu verwundern, daß dies mit den<lb/> Mitteln des Nihilismus geschah in einem Lande, das von seinen Beamten 30<lb/> Jahre lang nur Willkür, Gewalt und Gesetzlosigkeit gesehen hatte? Daß sich<lb/> die verbrecherische Explosion dieser Gewalten gegen die Person des Kaisers</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0184]
Die destructiven Elemente im Staate,
guten, wenn auch manchmal irrthümlichen Absichten entsprungen; auch wird
wenigstens die Illusion einer solchen guten Absicht im Volksgemüthe nicht
leicht zerstört. Neben dem großen Despotismus kann wirkliche Sittlichkeit, Volks¬
glück und Fortschritt bestehen. Wenn er nicht die höchsten staatsmännischen
Ideale befriedigen kann, so ist er andrerseits oft nöthig und völlig am Platze,
wo diese Ideale im Volke noch ohne jedes Verständniß bleiben würden. Anders
ist es mit dem kleinen Despotismus der Beamtenwillkür. Auch der dümmste
Bauer begreift das Unrecht eines bestechlichen Beamten, wenn dieser ihm Unbill
zugefügt hat. Die Willkür des Beamten kann nie aus sittlichen Motiven her¬
vorgehen. Das singulüre Unrecht, wie der dadurch erzeugte Haß, nimmt stets
concrete Gestalt an und wird persönlich. Die gemeinen Motive der Willkür
enthüllen sich ohne Schwierigkeit dem Auge des Bedrückten. Ein ungerechter,
herrschsüchtiger oder bestechlicher Richter, zumal an hoher Stelle, zerstört mehr
Menschenglück, zerrüttet mehr Treu und Glauben, verbittert und empört mehr
die Volksgeister als eine ganze Reihe von Verfassungsbrüchen, zumal bei einem
Volke von primitivem politischen Verständniß. In dem neuen Fürstenthum
Bulgarien kam es bei den ersten Wahlen zu dem ergötzlichen Unsinn, daß der
Fürst in seiner eignen Hauptstadt als Deputirter gewählt wurde; aber auf den
betreffenden Wahlzetteln stand zu lesen: „Fürst, wir wählen dich, damit du
uns gute Polizeioffiziere giebst." Fürwahr für dieses Land ein ganzes Ver¬
fassungsgesetzbuch in zwei Zeilen. Der große Despotismus des Freihandels hat
Deutschland Milliarden gekostet; wäre nur der hundertste Theil dein Volke durch
blutsaugerische russische Beamte genommen worden, so würde das ganze Volk
gegen diesen kleinen Despotismus revoltiren, während es den großen geduldig
ertragen und kaum bemerkt hat. Sobald die Beamtenwillkür wie in Rußland
größere Dimensionen angenommen hat, muß sie naturgemäß zur Coterie werden,
d. h. zu einem System gegenseitigen Schutzes innerhalb der Kaste oder Clique;
so lernt das Volk die Träger der Staatsidee als eine gegen sich verbündete
feindliche Macht kennen, und was das Entsetzlichste ist, es lernt tagtäglich ein¬
sehen, wie das Unrecht durch das Staatskleid zum Rechte gemacht wird. Das
russische Unterthanenauge sieht in seinen Beamten eine mit der Mafia und
Camorra in Italien zum Verwechseln ähnliche Verschwörung wider sich; denn
ob mich die Camorra brandschatzt und einschüchtert oder der eigene Staats¬
beamte, kommt ans eins heraus, uur daß das letztere den Vorwurf der Heu¬
chelei noch außerdem tragen muß. Gegen die Lüge solcher Zustände würde
jedes thatkräftige Volk revoltiren. Ist es zu verwundern, daß dies mit den
Mitteln des Nihilismus geschah in einem Lande, das von seinen Beamten 30
Jahre lang nur Willkür, Gewalt und Gesetzlosigkeit gesehen hatte? Daß sich
die verbrecherische Explosion dieser Gewalten gegen die Person des Kaisers
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