Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.ten. Wie bald ist die Lebensfähigkeit gerade eines Bühnenwerkes, welches sich Wir kennen den Zustand der Bühne in England, ans welchen bei diesen Wenden wir uns den maßgebenden Theaterorten zu, so finden wir dort ten. Wie bald ist die Lebensfähigkeit gerade eines Bühnenwerkes, welches sich Wir kennen den Zustand der Bühne in England, ans welchen bei diesen Wenden wir uns den maßgebenden Theaterorten zu, so finden wir dort <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0078" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147725"/> <p xml:id="ID_222" prev="#ID_221"> ten. Wie bald ist die Lebensfähigkeit gerade eines Bühnenwerkes, welches sich<lb/> diese letztere Aufgabe stellt, erloschen! Denn die wenigsten Dramen sind für<lb/> die Ewigkeit geschaffen, und eine Bühne ohne Zeitfärbuug, ohne moderne Stim-<lb/> mung, ohne Tendenz ist ein eariut nrorwrrra. Nissel ist von Laube nur auf<lb/> Zeit unterdrückt worden; aber selbst in solchen Fällen, wo es sich vielleicht um<lb/> dauernde, ewige Schöpfungen handelt, ist die Retardierung eine Beraubung des<lb/> Publikums. Um wie viel mehr ist dies der Fall, wenn es sich um Werke han¬<lb/> delt, die an das schnell pulsierende Leben des historischen Moments der Gegen¬<lb/> wart geknüpft siud, wenn an Stelle der Wahrheit, der ehrlichen poetischen<lb/> Richtung, welche das Entgegenkommen der praktischen Adepten des Theaters<lb/> verlangt, eine verlogene, irreleitende, depravierende Tendenz ans der Bühne in¬<lb/> stalliert wird! Mau verkennt das Wesen der Bühne, wenn man jenen stief¬<lb/> mütterlichen Trost ins Treffen stellt, mit sophistisch zugespitzten Gründen, wie<lb/> Lear sie von Regan und Gvneril hörte.</p><lb/> <p xml:id="ID_223"> Wir kennen den Zustand der Bühne in England, ans welchen bei diesen<lb/> Argumenten gewöhnlich hingewiesen wird, auch in Amerika, wo allerdings in<lb/> dem Chaos der Goldgräberdistricte jede Bühne, die nicht unter einem Berliner<lb/> Tingeltangel steht, uoch eine dankenswerthe Institution ist. Aber Dentschland<lb/> ist eben nicht England, wir sind kapitalistisch unterjocht, England ist kapitalistisch<lb/> allmächtig und läßt sich von keinem Cohnchen mit Hypotheken etwas verbieten.<lb/> Und Deutschland ist auch kein Amerika, sondern ein alter Culturstaat, wo schon<lb/> längst kein Gold mehr gegraben und kein Urwald mehr gefällt wird. Solche<lb/> Hinweise werden init wenig Liebe und Verständniß sür das Vaterland geltend<lb/> gemacht.</p><lb/> <p xml:id="ID_224" next="#ID_225"> Wenden wir uns den maßgebenden Theaterorten zu, so finden wir dort<lb/> durchweg das Judenthum in Flor, ja sogar allein herrschend. Wien hat sein<lb/> Hvfburgtheater, wo ehedem Laube, der Advptivsohn der Börse, das Seepter<lb/> führte. Ihm verdankt dieses Institut eine Reihe jüdischer Darsteller, welche die<lb/> neue Generation bildeten und, nachdem der alte Stamm berühmter Mimen sich<lb/> vom Repertoire zurückgezogen hat, dasselbe vollständig beherrschen. Laube hat<lb/> selber in jüngeren Jahren das Judenthum nicht unverschont gelassen, um sich<lb/> aber dann als wohlberathener Pfiffikus in dessen Mitte zur Ruhe zu setzen.<lb/> Er hat sich das Diplom eines „Ehrenjudeu" erworben. Wenn ein armer Cho-<lb/> chum aus Krakau mit der Empfehlung eines Mäeens von der Wvllzeile zu ihm<lb/> kam, so hörte er liebreich dessen Deklamationspröbchen an und brachte ihn unter<lb/> und bald auch auf. Laube hat stets durch die frische Initiative seines Naturells<lb/> und den gesunden Menschenverstand, der ihn charakterisiert, unsere Sympathie<lb/> genossen. Wir gestehen es ungern, daß das Theatertreiben auf seinen Charakter<lb/> nicht ohne einen verderblichen Einfluß geblieben ist, so daß selbst der höfische</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0078]
ten. Wie bald ist die Lebensfähigkeit gerade eines Bühnenwerkes, welches sich
diese letztere Aufgabe stellt, erloschen! Denn die wenigsten Dramen sind für
die Ewigkeit geschaffen, und eine Bühne ohne Zeitfärbuug, ohne moderne Stim-
mung, ohne Tendenz ist ein eariut nrorwrrra. Nissel ist von Laube nur auf
Zeit unterdrückt worden; aber selbst in solchen Fällen, wo es sich vielleicht um
dauernde, ewige Schöpfungen handelt, ist die Retardierung eine Beraubung des
Publikums. Um wie viel mehr ist dies der Fall, wenn es sich um Werke han¬
delt, die an das schnell pulsierende Leben des historischen Moments der Gegen¬
wart geknüpft siud, wenn an Stelle der Wahrheit, der ehrlichen poetischen
Richtung, welche das Entgegenkommen der praktischen Adepten des Theaters
verlangt, eine verlogene, irreleitende, depravierende Tendenz ans der Bühne in¬
stalliert wird! Mau verkennt das Wesen der Bühne, wenn man jenen stief¬
mütterlichen Trost ins Treffen stellt, mit sophistisch zugespitzten Gründen, wie
Lear sie von Regan und Gvneril hörte.
Wir kennen den Zustand der Bühne in England, ans welchen bei diesen
Argumenten gewöhnlich hingewiesen wird, auch in Amerika, wo allerdings in
dem Chaos der Goldgräberdistricte jede Bühne, die nicht unter einem Berliner
Tingeltangel steht, uoch eine dankenswerthe Institution ist. Aber Dentschland
ist eben nicht England, wir sind kapitalistisch unterjocht, England ist kapitalistisch
allmächtig und läßt sich von keinem Cohnchen mit Hypotheken etwas verbieten.
Und Deutschland ist auch kein Amerika, sondern ein alter Culturstaat, wo schon
längst kein Gold mehr gegraben und kein Urwald mehr gefällt wird. Solche
Hinweise werden init wenig Liebe und Verständniß sür das Vaterland geltend
gemacht.
Wenden wir uns den maßgebenden Theaterorten zu, so finden wir dort
durchweg das Judenthum in Flor, ja sogar allein herrschend. Wien hat sein
Hvfburgtheater, wo ehedem Laube, der Advptivsohn der Börse, das Seepter
führte. Ihm verdankt dieses Institut eine Reihe jüdischer Darsteller, welche die
neue Generation bildeten und, nachdem der alte Stamm berühmter Mimen sich
vom Repertoire zurückgezogen hat, dasselbe vollständig beherrschen. Laube hat
selber in jüngeren Jahren das Judenthum nicht unverschont gelassen, um sich
aber dann als wohlberathener Pfiffikus in dessen Mitte zur Ruhe zu setzen.
Er hat sich das Diplom eines „Ehrenjudeu" erworben. Wenn ein armer Cho-
chum aus Krakau mit der Empfehlung eines Mäeens von der Wvllzeile zu ihm
kam, so hörte er liebreich dessen Deklamationspröbchen an und brachte ihn unter
und bald auch auf. Laube hat stets durch die frische Initiative seines Naturells
und den gesunden Menschenverstand, der ihn charakterisiert, unsere Sympathie
genossen. Wir gestehen es ungern, daß das Theatertreiben auf seinen Charakter
nicht ohne einen verderblichen Einfluß geblieben ist, so daß selbst der höfische
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