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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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den denkwürdigen Sätzen gipfelte: "Aus freier Entschließung werden wir die
Freihafenstellung nicht aufgeben, wir wollen uns vielmehr dazu zwingen lassen!
Wenn wir aber sehen, daß wir zur nationalen Einheit gezwungen werden sollen,
dann haben wir immer noch Zeit, über die Bedingungen des Anschlusses zu
unterhandeln", und daß Protagoras darauf erwiederte: "Dann ist es zu Unter¬
handlungen zu spät! Dann wird der Mächtige die Bedingungen dictieren! Wenn
Abdera gezwungen werden muß, sich mit dem nationalen Wirthschaftsgebiete
zu vereinigen, dann ist es mit der Republik Abdera zu Ende!"

Nach diesen Worten empfahl sich Protagoras, um bald darauf nach Athen
zurückzukehren und dem Perikles über Stimmung und Absichten der Abderiten
zu berichten. Er hatte das geführte Gespräch aufgeschrieben und übergab es
dem Lenker Griechenlands. Auch den Athenern war es bekannt geworden, und
diese sollen, dem Berichte eines athenischen Geschichtsschreibers zufolge, in ein
ungeheures Gelächter darüber ausgebrochen sein.

Indessen nahte die weltgeschichtlich große Stunde der Entscheidung. An
einem düstern Novembertage wurde das parlamentarische Schauspiel eröffnet.
Im großen Rathe wurde nur xro torina gestritten. Die Stimmen hatte man
schon vor Beendigung der Verhandlungen gezählt; man kannte daher genau die
Zahl der Stimmen, mit denen die Abderiten siegen würden. Der Sieg war
vor dem Siege entschieden. Ganz Abdera war an diesem Tage in den dicksten
Nebel gehüllt, der sast so undurchdringlich war wie der Nebel in den Köpfen
der Abderiten. Schaarenweise strömten die Mitglieder des großen Rathes nach
dem Orte der Berathung. Die Mehrzahl freilich bewegte sich auch dieses Mal,
wie es der abderitischen Natur in allen Angelegenheiten des Kopfes entspricht,
auf den Köpfen. Einige gingen zwar auf ihren weltbekannten langen, platten
Füßen, aber der Kopf saß ihnen nicht auf den Schultern, fondern sie trugen
ihn unterm Arme. Wenige nur schritten einher wie gewöhnliche Menschen, aber
auch ihnen saß der Kopf nicht ganz fest; denn er wackelte hin und her, bald
nach vorn, bald nach hinten, bald nach rechts, bald nach links, so daß die Nicht-
abderiten glauben mußten, er werde ihnen jeden Augenblick abhanden kommen.
Von den Köpfen dieser Auserwählten wallten lange, breite, mit ängstlicher
Sorgfalt gepflegte Zöpfe tief auf den Rücken hinab, von deren Dasein indeß
die Besitzer derselben nichts wußten, nichts ahnten.

Als die Berathung eröffnet war, erhob sich der zungenlahmsprechende
Kitirikikas, ein feuriger Streber und der eigentliche Schlaukopf der Partei. Er
beantragte, der Rath möge beschließen: Abdera wolle zur Zeit Abdera bleiben.
Das Lächeln des Triumphes verklärte das dunkle, zuweilen düstre Antlitz des Kiki-
rikikas. Er kannte seine Abderiten. Er sprach keck, aber auch zugleich wahnsinn-
schön- Dafür wurde ihm denn auch wohlverdienter Beifall zu Theil. Leider


Mi'mzlwtm IV. IM), öl

den denkwürdigen Sätzen gipfelte: „Aus freier Entschließung werden wir die
Freihafenstellung nicht aufgeben, wir wollen uns vielmehr dazu zwingen lassen!
Wenn wir aber sehen, daß wir zur nationalen Einheit gezwungen werden sollen,
dann haben wir immer noch Zeit, über die Bedingungen des Anschlusses zu
unterhandeln", und daß Protagoras darauf erwiederte: „Dann ist es zu Unter¬
handlungen zu spät! Dann wird der Mächtige die Bedingungen dictieren! Wenn
Abdera gezwungen werden muß, sich mit dem nationalen Wirthschaftsgebiete
zu vereinigen, dann ist es mit der Republik Abdera zu Ende!"

Nach diesen Worten empfahl sich Protagoras, um bald darauf nach Athen
zurückzukehren und dem Perikles über Stimmung und Absichten der Abderiten
zu berichten. Er hatte das geführte Gespräch aufgeschrieben und übergab es
dem Lenker Griechenlands. Auch den Athenern war es bekannt geworden, und
diese sollen, dem Berichte eines athenischen Geschichtsschreibers zufolge, in ein
ungeheures Gelächter darüber ausgebrochen sein.

Indessen nahte die weltgeschichtlich große Stunde der Entscheidung. An
einem düstern Novembertage wurde das parlamentarische Schauspiel eröffnet.
Im großen Rathe wurde nur xro torina gestritten. Die Stimmen hatte man
schon vor Beendigung der Verhandlungen gezählt; man kannte daher genau die
Zahl der Stimmen, mit denen die Abderiten siegen würden. Der Sieg war
vor dem Siege entschieden. Ganz Abdera war an diesem Tage in den dicksten
Nebel gehüllt, der sast so undurchdringlich war wie der Nebel in den Köpfen
der Abderiten. Schaarenweise strömten die Mitglieder des großen Rathes nach
dem Orte der Berathung. Die Mehrzahl freilich bewegte sich auch dieses Mal,
wie es der abderitischen Natur in allen Angelegenheiten des Kopfes entspricht,
auf den Köpfen. Einige gingen zwar auf ihren weltbekannten langen, platten
Füßen, aber der Kopf saß ihnen nicht auf den Schultern, fondern sie trugen
ihn unterm Arme. Wenige nur schritten einher wie gewöhnliche Menschen, aber
auch ihnen saß der Kopf nicht ganz fest; denn er wackelte hin und her, bald
nach vorn, bald nach hinten, bald nach rechts, bald nach links, so daß die Nicht-
abderiten glauben mußten, er werde ihnen jeden Augenblick abhanden kommen.
Von den Köpfen dieser Auserwählten wallten lange, breite, mit ängstlicher
Sorgfalt gepflegte Zöpfe tief auf den Rücken hinab, von deren Dasein indeß
die Besitzer derselben nichts wußten, nichts ahnten.

Als die Berathung eröffnet war, erhob sich der zungenlahmsprechende
Kitirikikas, ein feuriger Streber und der eigentliche Schlaukopf der Partei. Er
beantragte, der Rath möge beschließen: Abdera wolle zur Zeit Abdera bleiben.
Das Lächeln des Triumphes verklärte das dunkle, zuweilen düstre Antlitz des Kiki-
rikikas. Er kannte seine Abderiten. Er sprach keck, aber auch zugleich wahnsinn-
schön- Dafür wurde ihm denn auch wohlverdienter Beifall zu Theil. Leider


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[0473] den denkwürdigen Sätzen gipfelte: „Aus freier Entschließung werden wir die Freihafenstellung nicht aufgeben, wir wollen uns vielmehr dazu zwingen lassen! Wenn wir aber sehen, daß wir zur nationalen Einheit gezwungen werden sollen, dann haben wir immer noch Zeit, über die Bedingungen des Anschlusses zu unterhandeln", und daß Protagoras darauf erwiederte: „Dann ist es zu Unter¬ handlungen zu spät! Dann wird der Mächtige die Bedingungen dictieren! Wenn Abdera gezwungen werden muß, sich mit dem nationalen Wirthschaftsgebiete zu vereinigen, dann ist es mit der Republik Abdera zu Ende!" Nach diesen Worten empfahl sich Protagoras, um bald darauf nach Athen zurückzukehren und dem Perikles über Stimmung und Absichten der Abderiten zu berichten. Er hatte das geführte Gespräch aufgeschrieben und übergab es dem Lenker Griechenlands. Auch den Athenern war es bekannt geworden, und diese sollen, dem Berichte eines athenischen Geschichtsschreibers zufolge, in ein ungeheures Gelächter darüber ausgebrochen sein. Indessen nahte die weltgeschichtlich große Stunde der Entscheidung. An einem düstern Novembertage wurde das parlamentarische Schauspiel eröffnet. Im großen Rathe wurde nur xro torina gestritten. Die Stimmen hatte man schon vor Beendigung der Verhandlungen gezählt; man kannte daher genau die Zahl der Stimmen, mit denen die Abderiten siegen würden. Der Sieg war vor dem Siege entschieden. Ganz Abdera war an diesem Tage in den dicksten Nebel gehüllt, der sast so undurchdringlich war wie der Nebel in den Köpfen der Abderiten. Schaarenweise strömten die Mitglieder des großen Rathes nach dem Orte der Berathung. Die Mehrzahl freilich bewegte sich auch dieses Mal, wie es der abderitischen Natur in allen Angelegenheiten des Kopfes entspricht, auf den Köpfen. Einige gingen zwar auf ihren weltbekannten langen, platten Füßen, aber der Kopf saß ihnen nicht auf den Schultern, fondern sie trugen ihn unterm Arme. Wenige nur schritten einher wie gewöhnliche Menschen, aber auch ihnen saß der Kopf nicht ganz fest; denn er wackelte hin und her, bald nach vorn, bald nach hinten, bald nach rechts, bald nach links, so daß die Nicht- abderiten glauben mußten, er werde ihnen jeden Augenblick abhanden kommen. Von den Köpfen dieser Auserwählten wallten lange, breite, mit ängstlicher Sorgfalt gepflegte Zöpfe tief auf den Rücken hinab, von deren Dasein indeß die Besitzer derselben nichts wußten, nichts ahnten. Als die Berathung eröffnet war, erhob sich der zungenlahmsprechende Kitirikikas, ein feuriger Streber und der eigentliche Schlaukopf der Partei. Er beantragte, der Rath möge beschließen: Abdera wolle zur Zeit Abdera bleiben. Das Lächeln des Triumphes verklärte das dunkle, zuweilen düstre Antlitz des Kiki- rikikas. Er kannte seine Abderiten. Er sprach keck, aber auch zugleich wahnsinn- schön- Dafür wurde ihm denn auch wohlverdienter Beifall zu Theil. Leider Mi'mzlwtm IV. IM), öl

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/473>, abgerufen am 29.12.2024.