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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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Zweifel äußerte über die Vortrefflichkeit dieser Institutionen und Observanzen
oder es gar wagte, Verbesserungsvorschläge zu machen, wurde gefürchtet und gehaßt,
wie nicht minder jeder Mensch gehaßt und gefürchtet wurde, der eine mehr als
abderitische Geistesbildung hatte; sie mieden ihn und flüchtete" vor ihm, wie sie
geflüchtet waren vor den räuberischen Fröschen und den barbarischen Mäusen.
Es gehörte immer viel Muth dazu, mitten unter den Abderiten Verstand zu
zeigen. Demokritos wurde für irrsinnig erklärt, weil er ein gescheiter Mann
war, Protagoras für einen Atheisten ausgeschrieen, weil er nachdachte über die
Dinge im Himmel und auf Erden. Wenn man die Köpfe nicht ignorieren konnte,
so wurden sie mißhandelt. Aber bisweilen machte der staatsgefährliche Kopf
doch seine Rechte geltend, und dann mußten die Anhänger des Plutos die For¬
derungen des verhaßten Kopfes bewilligen. Wäre das von Zeit zu Zeit nicht
geschehen, die Froschkönige würden dauernd in Abdera geherrscht haben.
Aber die Dummheit ist und bleibt fürchterlich. Selbst der gutherzige Demokrit
hielt es in seiner Vaterstadt nicht aus. Je größeres er leistete, je höher sein
Ruhm stieg, je mehr Wahrheiten er seinen Mitbürgern vordemonstriert hatte, um
so kleiner und schwachsinniger erschien er in den Augen der Abderiten. Nach¬
dem sie ihn lange Zeit als einen Irrsinnigen behandelt hatten, wurde er es
endlich müde, seine Perlen vor die Abderiten zu werfen. Er floh in die Ein¬
samkeit. Ein unsterbliches Verdienst hatten die Abderiten um den großen Na¬
turforscher: sie nannten ihn den lachenden Philosophen, aber sie begriffen nicht,
daß, wenn er oft vor ihnen sich des Lachens nicht enthalten konnte, es
nur deshalb geschah, weil sie ihm oft Gelegenheit gegeben hatten, sie -- aus¬
zulachen.

Während nun in Privatversammluugen die kitzliche Frage discutiert worden
war und es Zeit wurde, daß auch Abderas großer Rath sich erklärte, erschien
Protagoras im Auftrage des Perikles vor seinen Mitbürgern, um sie zu war¬
nen, auf der ausgetretenen und unsichern Bahn weiter zu gehen. Protagoras
wohnte seit längerer Zeit in Athen, und da er nicht nur ein Philosoph, son¬
dern auch ein politischer Kopf und begeisterter Anhänger des Perikles war, so
schenkte dieser ihm Gunst und Vertrauen. Der Botschafter des großen atheni¬
schen Staatsmannes wandte sich an den einflußreichste": unter den Abderiten,
an den mächtigen Orestes; denn er wußte, daß, wenn er diesen von dem eigen¬
sinnigen Verhalten und den närrischen Vorstellungen der abderitischen Staatsmänner
überzeugte, er sie alle überzeugt hatte. Nach den üblichen Begrüßungen fand
nun zwischen Protogams und dem großen Anführer der Abderiten ein langes
für die Gesinnungsart und das politische Denken beider Männer höchst charak¬
teristisches Gespräch statt, das wir zu unserm Bedauern nicht mittheilen können.
Wir wollen nur bemerken, daß die staatsmännische Weisheit des Orestes in


Zweifel äußerte über die Vortrefflichkeit dieser Institutionen und Observanzen
oder es gar wagte, Verbesserungsvorschläge zu machen, wurde gefürchtet und gehaßt,
wie nicht minder jeder Mensch gehaßt und gefürchtet wurde, der eine mehr als
abderitische Geistesbildung hatte; sie mieden ihn und flüchtete» vor ihm, wie sie
geflüchtet waren vor den räuberischen Fröschen und den barbarischen Mäusen.
Es gehörte immer viel Muth dazu, mitten unter den Abderiten Verstand zu
zeigen. Demokritos wurde für irrsinnig erklärt, weil er ein gescheiter Mann
war, Protagoras für einen Atheisten ausgeschrieen, weil er nachdachte über die
Dinge im Himmel und auf Erden. Wenn man die Köpfe nicht ignorieren konnte,
so wurden sie mißhandelt. Aber bisweilen machte der staatsgefährliche Kopf
doch seine Rechte geltend, und dann mußten die Anhänger des Plutos die For¬
derungen des verhaßten Kopfes bewilligen. Wäre das von Zeit zu Zeit nicht
geschehen, die Froschkönige würden dauernd in Abdera geherrscht haben.
Aber die Dummheit ist und bleibt fürchterlich. Selbst der gutherzige Demokrit
hielt es in seiner Vaterstadt nicht aus. Je größeres er leistete, je höher sein
Ruhm stieg, je mehr Wahrheiten er seinen Mitbürgern vordemonstriert hatte, um
so kleiner und schwachsinniger erschien er in den Augen der Abderiten. Nach¬
dem sie ihn lange Zeit als einen Irrsinnigen behandelt hatten, wurde er es
endlich müde, seine Perlen vor die Abderiten zu werfen. Er floh in die Ein¬
samkeit. Ein unsterbliches Verdienst hatten die Abderiten um den großen Na¬
turforscher: sie nannten ihn den lachenden Philosophen, aber sie begriffen nicht,
daß, wenn er oft vor ihnen sich des Lachens nicht enthalten konnte, es
nur deshalb geschah, weil sie ihm oft Gelegenheit gegeben hatten, sie — aus¬
zulachen.

Während nun in Privatversammluugen die kitzliche Frage discutiert worden
war und es Zeit wurde, daß auch Abderas großer Rath sich erklärte, erschien
Protagoras im Auftrage des Perikles vor seinen Mitbürgern, um sie zu war¬
nen, auf der ausgetretenen und unsichern Bahn weiter zu gehen. Protagoras
wohnte seit längerer Zeit in Athen, und da er nicht nur ein Philosoph, son¬
dern auch ein politischer Kopf und begeisterter Anhänger des Perikles war, so
schenkte dieser ihm Gunst und Vertrauen. Der Botschafter des großen atheni¬
schen Staatsmannes wandte sich an den einflußreichste«: unter den Abderiten,
an den mächtigen Orestes; denn er wußte, daß, wenn er diesen von dem eigen¬
sinnigen Verhalten und den närrischen Vorstellungen der abderitischen Staatsmänner
überzeugte, er sie alle überzeugt hatte. Nach den üblichen Begrüßungen fand
nun zwischen Protogams und dem großen Anführer der Abderiten ein langes
für die Gesinnungsart und das politische Denken beider Männer höchst charak¬
teristisches Gespräch statt, das wir zu unserm Bedauern nicht mittheilen können.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/472>, abgerufen am 29.12.2024.