Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.erhob drohend den Finger und wies mit ihm hin auf die Verfassungsbestim¬ Endlich aber mußte Abdera doch eine Entscheidung treffen. In mehreren erhob drohend den Finger und wies mit ihm hin auf die Verfassungsbestim¬ Endlich aber mußte Abdera doch eine Entscheidung treffen. In mehreren <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0471" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/148118"/> <p xml:id="ID_1240" prev="#ID_1239"> erhob drohend den Finger und wies mit ihm hin auf die Verfassungsbestim¬<lb/> mungen, welche die nationale Einheit forderten, aber seine Lippen umspielte noch<lb/> jenes bezaubernde Lächeln, das stets alle Herzen gewann. Der drohende Finger<lb/> bewirkte, daß die Sippe anfing, den Fall ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Das<lb/> bezaubernde Lächeln hatte zur Folge, daß die Berathungen verschleppt wurden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1241" next="#ID_1242"> Endlich aber mußte Abdera doch eine Entscheidung treffen. In mehreren<lb/> Versammlungen beriethen die Bürger, nachdem der hohe Rath von Abdera die<lb/> heikle Frage durch einen Ausschuß hatte vorberathen lassen, die längst spruch¬<lb/> reife Angelegenheit. Dieser Ausschuß war zu drei Viertheilen aus Genossen der<lb/> Sippe und ihren Jabrüdern gebildet; denn die Gemeindeverfassung war keine<lb/> demokratisch-republikanische, wofür man sie ausgab, sondern eine oligarchische.<lb/> Die Notablen hatten regiert von Geschlecht zu Geschlecht, und diese waren eben<lb/> großentheils die echten Abderiten. Familienwirthschaft nannten sie Volkswirth¬<lb/> schaft und Familienherrschaft Volksherrschaft. Jene Mehrheit nun verlangte die<lb/> Aufrechterhaltung der Freihafenstellung, die Minderheit die nationale Einheit.<lb/> Die Mehrheit hatte nur das abderitische Interesse im Auge, die Minderheit das<lb/> aller Staatsbürger, namentlich erhofften sie von der wirthschaftlichen Einheit<lb/> auch eine Erleichterung der die kleinen Bürger Abderas fast erdrückenden<lb/> Steuerlast. Denn Abdera war die höchstbesteuerte Stadt Griechenlands; auch<lb/> in Macedonien und Thracien gab es keine Stadt, deren Gemeinderath der Ge¬<lb/> meinde so schwere Lasten auferlegt hatte. Dennoch rühmten sich Abderas Se¬<lb/> nat und hoher Rath dieser Finanzlast; denn ihre Wirthschaftsphilosophen hatten<lb/> gelehrt, daß ein Freistaat wie Abdera um so reicher sei, je mehr Schulden er<lb/> besitze. Ein Zeugniß dieser Weisheit war auch ihr administratives Schachtel¬<lb/> system. Sie hielten es für eine vollkommene Staatsschöpfung, weil es wesent¬<lb/> lich zur Herrschaft der Sippe beigetragen hatte. Die politischen Kasten waren<lb/> ihr ebenso heilig, wie die religiösen Kasten den ägyptischen Priestern. Welch ein<lb/> Regierungs- und Verwaltungsapparat! Athen hatte neun Archonten, aber<lb/> Abdera zählte mehr als ein Dutzend, und dazu hatte es mehr als hundert Raths-<lb/> herren. Athen hatte e i n e n Perikles, aber in Abdera gab es so viel Periklesse,<lb/> als es Abderiten gab, und jeder von ihnen dünkte sich größer und weiser als<lb/> der eine in Athen; namentlich verstanden sie alle weit mehr von Handel und<lb/> Schifffahrt, von Gewerbe und Industrie, von Zoll- und Fiuanzsachen. Trotz<lb/> der großen Zahl von Archonten und Rathsherren wurden sie aber nie zu rechter<lb/> Zeit fertig mit den kleinen Angelegenheiten Abderas; denn es gehörte zu ihren<lb/> Lieblingsmaximen, sich einander entgegenzuarbeiten. Die dadurch entstandenen<lb/> Verwirrungen galten für staatsmännische Weisheit. Es war daher natürlich,<lb/> daß manche Arbeit zuweilen zwei- und dreimal gemacht werden mußte und die<lb/> Kostenanschläge weit hinter den wirklichen Kosten zurückblieben. Jeder, der</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0471]
erhob drohend den Finger und wies mit ihm hin auf die Verfassungsbestim¬
mungen, welche die nationale Einheit forderten, aber seine Lippen umspielte noch
jenes bezaubernde Lächeln, das stets alle Herzen gewann. Der drohende Finger
bewirkte, daß die Sippe anfing, den Fall ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Das
bezaubernde Lächeln hatte zur Folge, daß die Berathungen verschleppt wurden.
Endlich aber mußte Abdera doch eine Entscheidung treffen. In mehreren
Versammlungen beriethen die Bürger, nachdem der hohe Rath von Abdera die
heikle Frage durch einen Ausschuß hatte vorberathen lassen, die längst spruch¬
reife Angelegenheit. Dieser Ausschuß war zu drei Viertheilen aus Genossen der
Sippe und ihren Jabrüdern gebildet; denn die Gemeindeverfassung war keine
demokratisch-republikanische, wofür man sie ausgab, sondern eine oligarchische.
Die Notablen hatten regiert von Geschlecht zu Geschlecht, und diese waren eben
großentheils die echten Abderiten. Familienwirthschaft nannten sie Volkswirth¬
schaft und Familienherrschaft Volksherrschaft. Jene Mehrheit nun verlangte die
Aufrechterhaltung der Freihafenstellung, die Minderheit die nationale Einheit.
Die Mehrheit hatte nur das abderitische Interesse im Auge, die Minderheit das
aller Staatsbürger, namentlich erhofften sie von der wirthschaftlichen Einheit
auch eine Erleichterung der die kleinen Bürger Abderas fast erdrückenden
Steuerlast. Denn Abdera war die höchstbesteuerte Stadt Griechenlands; auch
in Macedonien und Thracien gab es keine Stadt, deren Gemeinderath der Ge¬
meinde so schwere Lasten auferlegt hatte. Dennoch rühmten sich Abderas Se¬
nat und hoher Rath dieser Finanzlast; denn ihre Wirthschaftsphilosophen hatten
gelehrt, daß ein Freistaat wie Abdera um so reicher sei, je mehr Schulden er
besitze. Ein Zeugniß dieser Weisheit war auch ihr administratives Schachtel¬
system. Sie hielten es für eine vollkommene Staatsschöpfung, weil es wesent¬
lich zur Herrschaft der Sippe beigetragen hatte. Die politischen Kasten waren
ihr ebenso heilig, wie die religiösen Kasten den ägyptischen Priestern. Welch ein
Regierungs- und Verwaltungsapparat! Athen hatte neun Archonten, aber
Abdera zählte mehr als ein Dutzend, und dazu hatte es mehr als hundert Raths-
herren. Athen hatte e i n e n Perikles, aber in Abdera gab es so viel Periklesse,
als es Abderiten gab, und jeder von ihnen dünkte sich größer und weiser als
der eine in Athen; namentlich verstanden sie alle weit mehr von Handel und
Schifffahrt, von Gewerbe und Industrie, von Zoll- und Fiuanzsachen. Trotz
der großen Zahl von Archonten und Rathsherren wurden sie aber nie zu rechter
Zeit fertig mit den kleinen Angelegenheiten Abderas; denn es gehörte zu ihren
Lieblingsmaximen, sich einander entgegenzuarbeiten. Die dadurch entstandenen
Verwirrungen galten für staatsmännische Weisheit. Es war daher natürlich,
daß manche Arbeit zuweilen zwei- und dreimal gemacht werden mußte und die
Kostenanschläge weit hinter den wirklichen Kosten zurückblieben. Jeder, der
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