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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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Politik setzten, was lediglich persönliches Ungeschick war. Diesen Beamten sagte
man zwar nicht nach, daß sie das Deutschthum hintansetzten, wohl aber, daß sie
ihr Preußenthum zu schroff hervorkehrten. Andererseits aber war es hier in
nationaler Beziehung ähnlich gegangen, wie bei uns im Reiche in politischer.
Was man ein Jahrhundert vermißt und ersehnt, was mau endlich durch Preußens
Weisheit und Kraft in kürzester Zeit äußerlich gewonnen hatte, das sollte nun
auch mit Dampfmaschinengeschwindigkeit innerlich erobert und den neuen Ver¬
hältnissen entsprechend umgestaltet werden. Im Reiche gelang dieser Kraftver¬
such durch die Machtvollkommenheit des rastlos vorwärts drängenden Par¬
laments, nicht zum Heile unseres Vaterlandes und unseres Volkes, wie
wir jetzt leider zu spät einsehen. In den Reichslanden aber war es Fürst
Bismarcks weise und dort omnipotente Hand, welche die neugewonnenen Landes¬
theile vor einer ähnlichen und dort vielleicht noch gefährlicheren Ueberstürzung be¬
wahrte. Daher die maßvolle Politik, daher das zwar beharrliche aber doch nur
langsame Vorschreiten der Germanisierung. Germanisierung! Das ist ja eben das¬
jenige, von dessen Wesenheit alle die, welche heute so laut über den Verrath
des Deutschthums in den Reichslanden schreien, kaum eine Ahnung haben. Als
ob die Nationalität eine Gewandung wäre, die sich an- und ablegen, färben und
umändern ließe, je nach der politischen Zugehörigkeit des betreffenden Landes.
Das Volksthum ist eine Sache des Herzens viel mehr als des Verstandes;
nirgends aber verletzt man leichter, erzeugt durch Rücksichtslosigkeit eher die der
erstrebten entgegengesetzte Empfindung, als wo das Herz ins Spiel kommt.
Nur langsame Gewöhnung erzeugt aus nationalem Boden eine anderes Empfin¬
den; nur eine Reihe von Jahrzehnten kann das Herz der reichsländischen Be¬
völkerung dem großen Mutterlande wieder zukehren, vou dem es durch eine
lange Geschichtsepoche abgewendet wordeu ist. Und welch eine Geschichtsepoche
trennt Elsaß-Lothringen von Deutschland! Auf der einen Seite ein einiger, großer,
weltgebietender Staat mit einer zwar höchst absoluten politischen Verfassung, aber
auch mit einer in wirthschaftlicher Beziehung vorsorglicher Negierung, welche die
eigenen Unterthanen schützte auf Kosten des Auslandes; und dem gegenüber das
deutsche Reich, heruntergestürzt vou der Staffel einstiger Größe, ohne staatliche
Einheit, durch kleinliche Eifersüchteleien zertheilt, ohne Macht seinen Besitz zu¬
sammenzuhalten, in Bruderkriegen sich zerfleischend, scheel angesehen von den
übrigen Nationen und im Rathe der Völker hintangesetzt, ja verächtlich hinge¬
stellt von seinen eigenen Landeskindern und von seinen eigenen Arbeitern in
Gewerbe und Industrie schmählich verleugnet. Was Wunder, daß jedes Jahr¬
zehnt die Reichslande dein alten Vaterlande mehr entfremdete und sie fester an
das neue, stärkere und angesehenere kettete? Daß selbst jetzt, wo das deutsche
Reich durch eines einzigen Mannes weitschauenden Seherblick, durch seiner Helden


Grenzboten IV. 13S0. 6

Politik setzten, was lediglich persönliches Ungeschick war. Diesen Beamten sagte
man zwar nicht nach, daß sie das Deutschthum hintansetzten, wohl aber, daß sie
ihr Preußenthum zu schroff hervorkehrten. Andererseits aber war es hier in
nationaler Beziehung ähnlich gegangen, wie bei uns im Reiche in politischer.
Was man ein Jahrhundert vermißt und ersehnt, was mau endlich durch Preußens
Weisheit und Kraft in kürzester Zeit äußerlich gewonnen hatte, das sollte nun
auch mit Dampfmaschinengeschwindigkeit innerlich erobert und den neuen Ver¬
hältnissen entsprechend umgestaltet werden. Im Reiche gelang dieser Kraftver¬
such durch die Machtvollkommenheit des rastlos vorwärts drängenden Par¬
laments, nicht zum Heile unseres Vaterlandes und unseres Volkes, wie
wir jetzt leider zu spät einsehen. In den Reichslanden aber war es Fürst
Bismarcks weise und dort omnipotente Hand, welche die neugewonnenen Landes¬
theile vor einer ähnlichen und dort vielleicht noch gefährlicheren Ueberstürzung be¬
wahrte. Daher die maßvolle Politik, daher das zwar beharrliche aber doch nur
langsame Vorschreiten der Germanisierung. Germanisierung! Das ist ja eben das¬
jenige, von dessen Wesenheit alle die, welche heute so laut über den Verrath
des Deutschthums in den Reichslanden schreien, kaum eine Ahnung haben. Als
ob die Nationalität eine Gewandung wäre, die sich an- und ablegen, färben und
umändern ließe, je nach der politischen Zugehörigkeit des betreffenden Landes.
Das Volksthum ist eine Sache des Herzens viel mehr als des Verstandes;
nirgends aber verletzt man leichter, erzeugt durch Rücksichtslosigkeit eher die der
erstrebten entgegengesetzte Empfindung, als wo das Herz ins Spiel kommt.
Nur langsame Gewöhnung erzeugt aus nationalem Boden eine anderes Empfin¬
den; nur eine Reihe von Jahrzehnten kann das Herz der reichsländischen Be¬
völkerung dem großen Mutterlande wieder zukehren, vou dem es durch eine
lange Geschichtsepoche abgewendet wordeu ist. Und welch eine Geschichtsepoche
trennt Elsaß-Lothringen von Deutschland! Auf der einen Seite ein einiger, großer,
weltgebietender Staat mit einer zwar höchst absoluten politischen Verfassung, aber
auch mit einer in wirthschaftlicher Beziehung vorsorglicher Negierung, welche die
eigenen Unterthanen schützte auf Kosten des Auslandes; und dem gegenüber das
deutsche Reich, heruntergestürzt vou der Staffel einstiger Größe, ohne staatliche
Einheit, durch kleinliche Eifersüchteleien zertheilt, ohne Macht seinen Besitz zu¬
sammenzuhalten, in Bruderkriegen sich zerfleischend, scheel angesehen von den
übrigen Nationen und im Rathe der Völker hintangesetzt, ja verächtlich hinge¬
stellt von seinen eigenen Landeskindern und von seinen eigenen Arbeitern in
Gewerbe und Industrie schmählich verleugnet. Was Wunder, daß jedes Jahr¬
zehnt die Reichslande dein alten Vaterlande mehr entfremdete und sie fester an
das neue, stärkere und angesehenere kettete? Daß selbst jetzt, wo das deutsche
Reich durch eines einzigen Mannes weitschauenden Seherblick, durch seiner Helden


Grenzboten IV. 13S0. 6
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[0045] Politik setzten, was lediglich persönliches Ungeschick war. Diesen Beamten sagte man zwar nicht nach, daß sie das Deutschthum hintansetzten, wohl aber, daß sie ihr Preußenthum zu schroff hervorkehrten. Andererseits aber war es hier in nationaler Beziehung ähnlich gegangen, wie bei uns im Reiche in politischer. Was man ein Jahrhundert vermißt und ersehnt, was mau endlich durch Preußens Weisheit und Kraft in kürzester Zeit äußerlich gewonnen hatte, das sollte nun auch mit Dampfmaschinengeschwindigkeit innerlich erobert und den neuen Ver¬ hältnissen entsprechend umgestaltet werden. Im Reiche gelang dieser Kraftver¬ such durch die Machtvollkommenheit des rastlos vorwärts drängenden Par¬ laments, nicht zum Heile unseres Vaterlandes und unseres Volkes, wie wir jetzt leider zu spät einsehen. In den Reichslanden aber war es Fürst Bismarcks weise und dort omnipotente Hand, welche die neugewonnenen Landes¬ theile vor einer ähnlichen und dort vielleicht noch gefährlicheren Ueberstürzung be¬ wahrte. Daher die maßvolle Politik, daher das zwar beharrliche aber doch nur langsame Vorschreiten der Germanisierung. Germanisierung! Das ist ja eben das¬ jenige, von dessen Wesenheit alle die, welche heute so laut über den Verrath des Deutschthums in den Reichslanden schreien, kaum eine Ahnung haben. Als ob die Nationalität eine Gewandung wäre, die sich an- und ablegen, färben und umändern ließe, je nach der politischen Zugehörigkeit des betreffenden Landes. Das Volksthum ist eine Sache des Herzens viel mehr als des Verstandes; nirgends aber verletzt man leichter, erzeugt durch Rücksichtslosigkeit eher die der erstrebten entgegengesetzte Empfindung, als wo das Herz ins Spiel kommt. Nur langsame Gewöhnung erzeugt aus nationalem Boden eine anderes Empfin¬ den; nur eine Reihe von Jahrzehnten kann das Herz der reichsländischen Be¬ völkerung dem großen Mutterlande wieder zukehren, vou dem es durch eine lange Geschichtsepoche abgewendet wordeu ist. Und welch eine Geschichtsepoche trennt Elsaß-Lothringen von Deutschland! Auf der einen Seite ein einiger, großer, weltgebietender Staat mit einer zwar höchst absoluten politischen Verfassung, aber auch mit einer in wirthschaftlicher Beziehung vorsorglicher Negierung, welche die eigenen Unterthanen schützte auf Kosten des Auslandes; und dem gegenüber das deutsche Reich, heruntergestürzt vou der Staffel einstiger Größe, ohne staatliche Einheit, durch kleinliche Eifersüchteleien zertheilt, ohne Macht seinen Besitz zu¬ sammenzuhalten, in Bruderkriegen sich zerfleischend, scheel angesehen von den übrigen Nationen und im Rathe der Völker hintangesetzt, ja verächtlich hinge¬ stellt von seinen eigenen Landeskindern und von seinen eigenen Arbeitern in Gewerbe und Industrie schmählich verleugnet. Was Wunder, daß jedes Jahr¬ zehnt die Reichslande dein alten Vaterlande mehr entfremdete und sie fester an das neue, stärkere und angesehenere kettete? Daß selbst jetzt, wo das deutsche Reich durch eines einzigen Mannes weitschauenden Seherblick, durch seiner Helden Grenzboten IV. 13S0. 6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/45>, abgerufen am 28.12.2024.