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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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eines Arbeiters und seiner Familie für alle bezeichneten Fälle zu sichern, auf
ungefähr 170 Mark jährlich. Engel nimmt dabei an, daß ein wöchentliches Kranken¬
geld von 9 Mark, eine mit dem Anfange des 66. Lebensjahres beginnende Alters¬
rente von 346,80 Mark jährlich, eine Jnvalidenpension von 120 Mark, ein
Begräbnißgeld von 60 Mark, eine Unterstützung von 10 Mark wöchentlich
(bei Annahme einer durchschnittlichen Feierzeit von 2 Monaten im Jahre) und
eine jährliche Waisenhilfe von 400 Mark im Durchschnitt nöthig seien. Er ver¬
anschlagt indeß die Kosten der Nahrung und Kleidung, der Wohnung, Feuerung,
Beleuchtung :c. für den Arbeiter und seine Familie durchschnittlich nur auf
eine Mark täglich -- ein Betrag, der im allgemeinen den heutigen Preisver¬
hältnissen nicht mehr entspricht -- und kommt zu dem darum zu niedrigen
Resultate, daß ungefähr 550 Mark Jahreslohn erforderlich sein werden, um
aus ihm alle Erfordernisse des Lebens der Arbeiterfamilie in Gegenwart und
Zukunft zu befriedigen. Der Breslauer Professor der Volkswirthschaft Dr. Lujo
Brentano schätzt dagegen in seiner Schrift "Die Arbeiterversicherung :c." die
Kosten der Nahrung, Kleidung, Wohnung :c. für den Arbeiter und feine Fa¬
milie während der productiven Periode auf 2,50 Mark täglich und somit der
Gesammtbedürfnifse desselben, statt wie Engel auf 365 Mark, auf jährlich etwa
1080 Mark. Demnach müßte der Wochenlohn für alle Arbeiter mindestens
20--21 Mark sein, ein Betrag, den derselbe thatsächlich nnr bei einzelnen Bran¬
chen qualificierter Arbeit regelmäßig erreicht. Die Berliner Tischler ringen zur
Zeit um einen Wochenlohn von durchschnittlich 15 Mark. Die große Masse
der unqualificierten Arbeiter, derjenigen also, die nicht für eine bestimmte,
besondere Fachkenntniß und Geschicklichkeit erfordernde Werkthätigkeit vorge¬
bildet sind, erreicht dieses Einkommen in der Regel nicht. Und wahr¬
scheinlich gibt es auch qualificierte Arbeiter genug, deren Wochenerwerb ebenfalls
geringer ist. Zu diesen und andern Calculationen müssen wir bemerken, daß
das für uns wesentliche nur der Durchschnitt bez. die Durchschnittsberechnung
des Einkommens aller Arbeiter ist, und daß die verbürgten Ziffern aus der
Praxis erst in zweiter Linie Werth haben. Engel berechnet den Durchschnitt,
Brentano die productive Periode. Daß des erstem Betrag von 1 Mark etwas
Zu niedrig, des letztern von 2,50 Mark zu hoch gegriffen sein dürfte, scheinen
die angeführten Ziffern aus der Praxis, speciell die Erfahrungen aus dem
Elsaß (800 Francs durchschnittlicher Jahreslohn) zu bestätigen. Die Erfahrung
lehrt ferner, daß bei den verheirateten Arbeitern der untern Grade die Frauen
nicht unerheblich durch eigene Arbeit zum Verdienste beisteuern, und bei den
meistens zahlreichen Familien die Kinder schon frühe mitverdienen. Erwachsene
Kinder werden erfahrungsmäßig von der Arbeiterbevölkerung als eine segens¬
reiche Hilfe hauptsächlich in pecuniärer Hinsicht angesehen. Endlich ist es


eines Arbeiters und seiner Familie für alle bezeichneten Fälle zu sichern, auf
ungefähr 170 Mark jährlich. Engel nimmt dabei an, daß ein wöchentliches Kranken¬
geld von 9 Mark, eine mit dem Anfange des 66. Lebensjahres beginnende Alters¬
rente von 346,80 Mark jährlich, eine Jnvalidenpension von 120 Mark, ein
Begräbnißgeld von 60 Mark, eine Unterstützung von 10 Mark wöchentlich
(bei Annahme einer durchschnittlichen Feierzeit von 2 Monaten im Jahre) und
eine jährliche Waisenhilfe von 400 Mark im Durchschnitt nöthig seien. Er ver¬
anschlagt indeß die Kosten der Nahrung und Kleidung, der Wohnung, Feuerung,
Beleuchtung :c. für den Arbeiter und seine Familie durchschnittlich nur auf
eine Mark täglich — ein Betrag, der im allgemeinen den heutigen Preisver¬
hältnissen nicht mehr entspricht — und kommt zu dem darum zu niedrigen
Resultate, daß ungefähr 550 Mark Jahreslohn erforderlich sein werden, um
aus ihm alle Erfordernisse des Lebens der Arbeiterfamilie in Gegenwart und
Zukunft zu befriedigen. Der Breslauer Professor der Volkswirthschaft Dr. Lujo
Brentano schätzt dagegen in seiner Schrift „Die Arbeiterversicherung :c." die
Kosten der Nahrung, Kleidung, Wohnung :c. für den Arbeiter und feine Fa¬
milie während der productiven Periode auf 2,50 Mark täglich und somit der
Gesammtbedürfnifse desselben, statt wie Engel auf 365 Mark, auf jährlich etwa
1080 Mark. Demnach müßte der Wochenlohn für alle Arbeiter mindestens
20—21 Mark sein, ein Betrag, den derselbe thatsächlich nnr bei einzelnen Bran¬
chen qualificierter Arbeit regelmäßig erreicht. Die Berliner Tischler ringen zur
Zeit um einen Wochenlohn von durchschnittlich 15 Mark. Die große Masse
der unqualificierten Arbeiter, derjenigen also, die nicht für eine bestimmte,
besondere Fachkenntniß und Geschicklichkeit erfordernde Werkthätigkeit vorge¬
bildet sind, erreicht dieses Einkommen in der Regel nicht. Und wahr¬
scheinlich gibt es auch qualificierte Arbeiter genug, deren Wochenerwerb ebenfalls
geringer ist. Zu diesen und andern Calculationen müssen wir bemerken, daß
das für uns wesentliche nur der Durchschnitt bez. die Durchschnittsberechnung
des Einkommens aller Arbeiter ist, und daß die verbürgten Ziffern aus der
Praxis erst in zweiter Linie Werth haben. Engel berechnet den Durchschnitt,
Brentano die productive Periode. Daß des erstem Betrag von 1 Mark etwas
Zu niedrig, des letztern von 2,50 Mark zu hoch gegriffen sein dürfte, scheinen
die angeführten Ziffern aus der Praxis, speciell die Erfahrungen aus dem
Elsaß (800 Francs durchschnittlicher Jahreslohn) zu bestätigen. Die Erfahrung
lehrt ferner, daß bei den verheirateten Arbeitern der untern Grade die Frauen
nicht unerheblich durch eigene Arbeit zum Verdienste beisteuern, und bei den
meistens zahlreichen Familien die Kinder schon frühe mitverdienen. Erwachsene
Kinder werden erfahrungsmäßig von der Arbeiterbevölkerung als eine segens¬
reiche Hilfe hauptsächlich in pecuniärer Hinsicht angesehen. Endlich ist es


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[0323] eines Arbeiters und seiner Familie für alle bezeichneten Fälle zu sichern, auf ungefähr 170 Mark jährlich. Engel nimmt dabei an, daß ein wöchentliches Kranken¬ geld von 9 Mark, eine mit dem Anfange des 66. Lebensjahres beginnende Alters¬ rente von 346,80 Mark jährlich, eine Jnvalidenpension von 120 Mark, ein Begräbnißgeld von 60 Mark, eine Unterstützung von 10 Mark wöchentlich (bei Annahme einer durchschnittlichen Feierzeit von 2 Monaten im Jahre) und eine jährliche Waisenhilfe von 400 Mark im Durchschnitt nöthig seien. Er ver¬ anschlagt indeß die Kosten der Nahrung und Kleidung, der Wohnung, Feuerung, Beleuchtung :c. für den Arbeiter und seine Familie durchschnittlich nur auf eine Mark täglich — ein Betrag, der im allgemeinen den heutigen Preisver¬ hältnissen nicht mehr entspricht — und kommt zu dem darum zu niedrigen Resultate, daß ungefähr 550 Mark Jahreslohn erforderlich sein werden, um aus ihm alle Erfordernisse des Lebens der Arbeiterfamilie in Gegenwart und Zukunft zu befriedigen. Der Breslauer Professor der Volkswirthschaft Dr. Lujo Brentano schätzt dagegen in seiner Schrift „Die Arbeiterversicherung :c." die Kosten der Nahrung, Kleidung, Wohnung :c. für den Arbeiter und feine Fa¬ milie während der productiven Periode auf 2,50 Mark täglich und somit der Gesammtbedürfnifse desselben, statt wie Engel auf 365 Mark, auf jährlich etwa 1080 Mark. Demnach müßte der Wochenlohn für alle Arbeiter mindestens 20—21 Mark sein, ein Betrag, den derselbe thatsächlich nnr bei einzelnen Bran¬ chen qualificierter Arbeit regelmäßig erreicht. Die Berliner Tischler ringen zur Zeit um einen Wochenlohn von durchschnittlich 15 Mark. Die große Masse der unqualificierten Arbeiter, derjenigen also, die nicht für eine bestimmte, besondere Fachkenntniß und Geschicklichkeit erfordernde Werkthätigkeit vorge¬ bildet sind, erreicht dieses Einkommen in der Regel nicht. Und wahr¬ scheinlich gibt es auch qualificierte Arbeiter genug, deren Wochenerwerb ebenfalls geringer ist. Zu diesen und andern Calculationen müssen wir bemerken, daß das für uns wesentliche nur der Durchschnitt bez. die Durchschnittsberechnung des Einkommens aller Arbeiter ist, und daß die verbürgten Ziffern aus der Praxis erst in zweiter Linie Werth haben. Engel berechnet den Durchschnitt, Brentano die productive Periode. Daß des erstem Betrag von 1 Mark etwas Zu niedrig, des letztern von 2,50 Mark zu hoch gegriffen sein dürfte, scheinen die angeführten Ziffern aus der Praxis, speciell die Erfahrungen aus dem Elsaß (800 Francs durchschnittlicher Jahreslohn) zu bestätigen. Die Erfahrung lehrt ferner, daß bei den verheirateten Arbeitern der untern Grade die Frauen nicht unerheblich durch eigene Arbeit zum Verdienste beisteuern, und bei den meistens zahlreichen Familien die Kinder schon frühe mitverdienen. Erwachsene Kinder werden erfahrungsmäßig von der Arbeiterbevölkerung als eine segens¬ reiche Hilfe hauptsächlich in pecuniärer Hinsicht angesehen. Endlich ist es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/323>, abgerufen am 08.01.2025.