Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.führung von allgemeinen Pensionskassen ist angeführt worden, daß er eine führung von allgemeinen Pensionskassen ist angeführt worden, daß er eine <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0319" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147966"/> <p xml:id="ID_866" prev="#ID_865"> führung von allgemeinen Pensionskassen ist angeführt worden, daß er eine<lb/> Sanctionierung staatssocialistischer Principien sei und sich mit den gegenwärtigen<lb/> Anschauungen über die Freiheit der Individuen nicht vertrage. Das gerade<lb/> Gegentheil scheint aber wahr zu sein. Der Zwang ist ja gerade der Ausspruch<lb/> der Pflicht eines jeden Staatsbürgers, selbst für seine Bedürfnisse zu sorgen<lb/> und nicht der Hilfe der Gesellschaft und des Staats anheim zu fallen. Eher<lb/> ist die heutige Form der Altersversorgung auf dem Wege der Armenunter¬<lb/> stützung socialistisch angehaucht, da sie ohne directe für diesen bestimmten Zweck<lb/> vorgesehene Leistung und auch ohne Rücksicht, ob eine solche stattgefunden hat,<lb/> das erwerbsunfähige Individuum auf gesellschaftliche Kosten unterhält. Daß<lb/> ein vorbeugender Zwang geübt werden muß, liegt in der Natur der Sache,<lb/> denn der einmal erwerbsunfähige, der seine Pflicht der Vorsorge versäumt hat,<lb/> kann doch nicht mehr zur Erfüllung derselben gezwungen werden, wie dies bei<lb/> andern Verletzungen der bürgerlichen Gebote möglich ist. Gerade vom Stand-<lb/> Punkte der herrschenden Gesellschaftsraison und der Herren Fortschrittsmänner<lb/> kann hier dem Individuum gar nicht die Freiheit des Handelns gelassen werden,<lb/> weil für jede Sünde die Gesellschaft voll und ganz eintreten muß, ohne doch<lb/> die Möglichkeit zu haben, sich an dem Uebertreter ihrer Sittenvorschriften schad¬<lb/> los zu halten. Dazu kommt endlich, daß die Wahrscheinlichkeit dieser Über¬<lb/> tretungen und damit die Nothwendigkeit der staatlichen oder kommunalen Hilfe<lb/> eine allgemeine und sehr umfangreiche ist. Die Zwangskassen entsprechen also<lb/> völlig dem heute herrschenden Grundsatze der Pflicht der Selbsthilfe. Daß<lb/> hierdurch die Concurrenzfähigkeit unserer Industrie geschädigt werde, ist um so<lb/> weniger zu fürchten, als einer der hauptsächlich mit uns concurrierenden Staa¬<lb/> ten, Frankreich, eben dabei ist, gleichfalls obligatorische Altersversorgungs-Kassen<lb/> für die Arbeiter einzuführen, als ferner der Vortheil der englischen Industrie<lb/> vor der unsern wahrlich nicht in niedrigern Löhnen zu suchen ist, und als<lb/> endlich das Beispiel zweier so wichtiger Industriestaaten wie Deutschland und<lb/> Frankreich die andern über kurz oder lang zur Nachfolge zwingen wird. Die<lb/> stricte Abweisung der Einführung eines Zwanges zur Mitgliedschaft an einer sichern<lb/> >mvalidenversorgungs-Kasse erscheint demnach nirgends geboten; im Gegentheil<lb/> spricht sehr vieles dafür, daß nur durch den Beitrittszwang jene Institute sicher<lb/> w die Lage zu versetzen sein werden, ihren Mitgliedern und der Gesellschaft<lb/> die Zwecke zu erfüllen, die ihnen inne wohnen sollen: mit möglichst geringen<lb/> Opfern für die einzelnen den Unvermögenden für den Fall der Invalidität<lb/> eme ausreichende Unterstützung zu sichern, sie von der traurigen und beschämen¬<lb/> den Nothwendigkeit, die Armenhilfe oder private Wohlthätigkeit annehmen zu<lb/> müssen, zu befreien und damit einen frischen Zug von Zuversicht in das Leben<lb/> der Arbeiterklasse hineinzubringen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0319]
führung von allgemeinen Pensionskassen ist angeführt worden, daß er eine
Sanctionierung staatssocialistischer Principien sei und sich mit den gegenwärtigen
Anschauungen über die Freiheit der Individuen nicht vertrage. Das gerade
Gegentheil scheint aber wahr zu sein. Der Zwang ist ja gerade der Ausspruch
der Pflicht eines jeden Staatsbürgers, selbst für seine Bedürfnisse zu sorgen
und nicht der Hilfe der Gesellschaft und des Staats anheim zu fallen. Eher
ist die heutige Form der Altersversorgung auf dem Wege der Armenunter¬
stützung socialistisch angehaucht, da sie ohne directe für diesen bestimmten Zweck
vorgesehene Leistung und auch ohne Rücksicht, ob eine solche stattgefunden hat,
das erwerbsunfähige Individuum auf gesellschaftliche Kosten unterhält. Daß
ein vorbeugender Zwang geübt werden muß, liegt in der Natur der Sache,
denn der einmal erwerbsunfähige, der seine Pflicht der Vorsorge versäumt hat,
kann doch nicht mehr zur Erfüllung derselben gezwungen werden, wie dies bei
andern Verletzungen der bürgerlichen Gebote möglich ist. Gerade vom Stand-
Punkte der herrschenden Gesellschaftsraison und der Herren Fortschrittsmänner
kann hier dem Individuum gar nicht die Freiheit des Handelns gelassen werden,
weil für jede Sünde die Gesellschaft voll und ganz eintreten muß, ohne doch
die Möglichkeit zu haben, sich an dem Uebertreter ihrer Sittenvorschriften schad¬
los zu halten. Dazu kommt endlich, daß die Wahrscheinlichkeit dieser Über¬
tretungen und damit die Nothwendigkeit der staatlichen oder kommunalen Hilfe
eine allgemeine und sehr umfangreiche ist. Die Zwangskassen entsprechen also
völlig dem heute herrschenden Grundsatze der Pflicht der Selbsthilfe. Daß
hierdurch die Concurrenzfähigkeit unserer Industrie geschädigt werde, ist um so
weniger zu fürchten, als einer der hauptsächlich mit uns concurrierenden Staa¬
ten, Frankreich, eben dabei ist, gleichfalls obligatorische Altersversorgungs-Kassen
für die Arbeiter einzuführen, als ferner der Vortheil der englischen Industrie
vor der unsern wahrlich nicht in niedrigern Löhnen zu suchen ist, und als
endlich das Beispiel zweier so wichtiger Industriestaaten wie Deutschland und
Frankreich die andern über kurz oder lang zur Nachfolge zwingen wird. Die
stricte Abweisung der Einführung eines Zwanges zur Mitgliedschaft an einer sichern
>mvalidenversorgungs-Kasse erscheint demnach nirgends geboten; im Gegentheil
spricht sehr vieles dafür, daß nur durch den Beitrittszwang jene Institute sicher
w die Lage zu versetzen sein werden, ihren Mitgliedern und der Gesellschaft
die Zwecke zu erfüllen, die ihnen inne wohnen sollen: mit möglichst geringen
Opfern für die einzelnen den Unvermögenden für den Fall der Invalidität
eme ausreichende Unterstützung zu sichern, sie von der traurigen und beschämen¬
den Nothwendigkeit, die Armenhilfe oder private Wohlthätigkeit annehmen zu
müssen, zu befreien und damit einen frischen Zug von Zuversicht in das Leben
der Arbeiterklasse hineinzubringen.
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