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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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Volk eine solche noch hervorbringen werde, so wäre vielleicht dieser jahrhunderte¬
lange Stillstand in dem geistigen und religiösen Leben desselben noch einiger¬
maßen haltbar. Ohne eigene Cultur und ohne Aussicht auf eine solche, wie die
Sache jetzt liegt, kann dieses Volk aus dem Gegensatze zu den andern Völkern
nicht herauskommen, so lange nicht eine fremde lebendige Culturquelle sich ihm
in seinem Unterrichtswesen öffnet. Es ist damit nichts gewonnen, daß man die
Juden in die christlichen Schulen verweist. Damit werden Abtrünnige erzogen,
aber das Judenthum nicht geändert. Es bedarf jüdischer Schulen, mit
moderner Wissenschaft und jüdischem Religionsunterricht, inmitten der östlichen
Juden, in bedeutender Menge und uuter freisinniger Organisation und Leitung.
Dazu gehören große Mittel, große Arbeit. Aber welche Opfer und Anstren¬
gungen hat das aufgeklärte Judenthum nicht schon gebracht für das materielle
und äußerlich religiöse Leben seines Volkes? Es hat noch ebeu das vereinigte
Europa dazu gebracht, den Juden in Rumänien ein Hinderniß ihres Erwerbes
hinwegzuräumen. Damit wird erreicht werden, daß einige zehn Millionen mehr
in jüdische Hände gelangen, einige dieser neuen Millionäre dem Judenthume den
Rücken kehren, das Judenthum selbst aber unverändert bleibt. Es wird viel¬
leicht zur Folge haben, daß die neuen jüdischen Millionen den Haß der Christen
steigern werden und die Gewalt herausfordern. Vor Alters wandte man ge¬
legentlich wohl solche Maßregeln an, um den jüdischen Millionären nachher ihre
Schätze wieder abzujagen. Wenn dergleichen heute geschähe, würde Europa von
dem Geschrei über Barbarei erdröhnen. Aber man schweigt heute in der Ueber¬
zeugung, eine große That der Humanität verrichtet zu haben, indem man den
rumänischen Juden zu Schätzen verhilft an Gold und Geld, während man kaum
einen Finger rührt, ihr geistiges Eigenthum zu mehren. Man bricht alle mate¬
riellen Schranken des Judenthums und läßt ihre geistige Schranke des Talmud
ungebrochen. Man wird voraussichtlich immer wieder von Rußland äußere
Gleichstellung der Juden mit den Christen verlangen, wenn auch nur in der
Form leiser Bitte oder literarischen Kampfes. Nicht aber in dieser Richtung
liegt das Heilmittel, die Lösung der uralten Frage, sondern in der Richtung
der geistigen Wiedergeburt des Judenthums. Vergeblich wird man suchen den
Gegensatz zu brechen, der mindestens ebenso sehr in den Zustünden und dem
Geiste des Judenthums -- ich verstehe das orthodoxe -- begründet ist, als in
der traditionellen Abneigung der andern Völker. Vergebens, so lange man nur
nach der einen Seite hin arbeitet und die andere in ihrer Schroffheit sich selbst
überläßt.

Die jüdische Frage wird in nicht langer Zeit für Rußland und die slawi¬
sche Nasse zur Reife gelangen; aber gegenwärtig drängt sie vor allem zu einer
Lösung für das deutsche Volk. Stünden die slawischen Juden ans einer niedern


Grenzboten IV. 18S0. 40

Volk eine solche noch hervorbringen werde, so wäre vielleicht dieser jahrhunderte¬
lange Stillstand in dem geistigen und religiösen Leben desselben noch einiger¬
maßen haltbar. Ohne eigene Cultur und ohne Aussicht auf eine solche, wie die
Sache jetzt liegt, kann dieses Volk aus dem Gegensatze zu den andern Völkern
nicht herauskommen, so lange nicht eine fremde lebendige Culturquelle sich ihm
in seinem Unterrichtswesen öffnet. Es ist damit nichts gewonnen, daß man die
Juden in die christlichen Schulen verweist. Damit werden Abtrünnige erzogen,
aber das Judenthum nicht geändert. Es bedarf jüdischer Schulen, mit
moderner Wissenschaft und jüdischem Religionsunterricht, inmitten der östlichen
Juden, in bedeutender Menge und uuter freisinniger Organisation und Leitung.
Dazu gehören große Mittel, große Arbeit. Aber welche Opfer und Anstren¬
gungen hat das aufgeklärte Judenthum nicht schon gebracht für das materielle
und äußerlich religiöse Leben seines Volkes? Es hat noch ebeu das vereinigte
Europa dazu gebracht, den Juden in Rumänien ein Hinderniß ihres Erwerbes
hinwegzuräumen. Damit wird erreicht werden, daß einige zehn Millionen mehr
in jüdische Hände gelangen, einige dieser neuen Millionäre dem Judenthume den
Rücken kehren, das Judenthum selbst aber unverändert bleibt. Es wird viel¬
leicht zur Folge haben, daß die neuen jüdischen Millionen den Haß der Christen
steigern werden und die Gewalt herausfordern. Vor Alters wandte man ge¬
legentlich wohl solche Maßregeln an, um den jüdischen Millionären nachher ihre
Schätze wieder abzujagen. Wenn dergleichen heute geschähe, würde Europa von
dem Geschrei über Barbarei erdröhnen. Aber man schweigt heute in der Ueber¬
zeugung, eine große That der Humanität verrichtet zu haben, indem man den
rumänischen Juden zu Schätzen verhilft an Gold und Geld, während man kaum
einen Finger rührt, ihr geistiges Eigenthum zu mehren. Man bricht alle mate¬
riellen Schranken des Judenthums und läßt ihre geistige Schranke des Talmud
ungebrochen. Man wird voraussichtlich immer wieder von Rußland äußere
Gleichstellung der Juden mit den Christen verlangen, wenn auch nur in der
Form leiser Bitte oder literarischen Kampfes. Nicht aber in dieser Richtung
liegt das Heilmittel, die Lösung der uralten Frage, sondern in der Richtung
der geistigen Wiedergeburt des Judenthums. Vergeblich wird man suchen den
Gegensatz zu brechen, der mindestens ebenso sehr in den Zustünden und dem
Geiste des Judenthums — ich verstehe das orthodoxe — begründet ist, als in
der traditionellen Abneigung der andern Völker. Vergebens, so lange man nur
nach der einen Seite hin arbeitet und die andere in ihrer Schroffheit sich selbst
überläßt.

Die jüdische Frage wird in nicht langer Zeit für Rußland und die slawi¬
sche Nasse zur Reife gelangen; aber gegenwärtig drängt sie vor allem zu einer
Lösung für das deutsche Volk. Stünden die slawischen Juden ans einer niedern


Grenzboten IV. 18S0. 40
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[0309] Volk eine solche noch hervorbringen werde, so wäre vielleicht dieser jahrhunderte¬ lange Stillstand in dem geistigen und religiösen Leben desselben noch einiger¬ maßen haltbar. Ohne eigene Cultur und ohne Aussicht auf eine solche, wie die Sache jetzt liegt, kann dieses Volk aus dem Gegensatze zu den andern Völkern nicht herauskommen, so lange nicht eine fremde lebendige Culturquelle sich ihm in seinem Unterrichtswesen öffnet. Es ist damit nichts gewonnen, daß man die Juden in die christlichen Schulen verweist. Damit werden Abtrünnige erzogen, aber das Judenthum nicht geändert. Es bedarf jüdischer Schulen, mit moderner Wissenschaft und jüdischem Religionsunterricht, inmitten der östlichen Juden, in bedeutender Menge und uuter freisinniger Organisation und Leitung. Dazu gehören große Mittel, große Arbeit. Aber welche Opfer und Anstren¬ gungen hat das aufgeklärte Judenthum nicht schon gebracht für das materielle und äußerlich religiöse Leben seines Volkes? Es hat noch ebeu das vereinigte Europa dazu gebracht, den Juden in Rumänien ein Hinderniß ihres Erwerbes hinwegzuräumen. Damit wird erreicht werden, daß einige zehn Millionen mehr in jüdische Hände gelangen, einige dieser neuen Millionäre dem Judenthume den Rücken kehren, das Judenthum selbst aber unverändert bleibt. Es wird viel¬ leicht zur Folge haben, daß die neuen jüdischen Millionen den Haß der Christen steigern werden und die Gewalt herausfordern. Vor Alters wandte man ge¬ legentlich wohl solche Maßregeln an, um den jüdischen Millionären nachher ihre Schätze wieder abzujagen. Wenn dergleichen heute geschähe, würde Europa von dem Geschrei über Barbarei erdröhnen. Aber man schweigt heute in der Ueber¬ zeugung, eine große That der Humanität verrichtet zu haben, indem man den rumänischen Juden zu Schätzen verhilft an Gold und Geld, während man kaum einen Finger rührt, ihr geistiges Eigenthum zu mehren. Man bricht alle mate¬ riellen Schranken des Judenthums und läßt ihre geistige Schranke des Talmud ungebrochen. Man wird voraussichtlich immer wieder von Rußland äußere Gleichstellung der Juden mit den Christen verlangen, wenn auch nur in der Form leiser Bitte oder literarischen Kampfes. Nicht aber in dieser Richtung liegt das Heilmittel, die Lösung der uralten Frage, sondern in der Richtung der geistigen Wiedergeburt des Judenthums. Vergeblich wird man suchen den Gegensatz zu brechen, der mindestens ebenso sehr in den Zustünden und dem Geiste des Judenthums — ich verstehe das orthodoxe — begründet ist, als in der traditionellen Abneigung der andern Völker. Vergebens, so lange man nur nach der einen Seite hin arbeitet und die andere in ihrer Schroffheit sich selbst überläßt. Die jüdische Frage wird in nicht langer Zeit für Rußland und die slawi¬ sche Nasse zur Reife gelangen; aber gegenwärtig drängt sie vor allem zu einer Lösung für das deutsche Volk. Stünden die slawischen Juden ans einer niedern Grenzboten IV. 18S0. 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/309>, abgerufen am 09.01.2025.