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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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als gehindert durch die unzähligen Erfahrungen, Kunstgriffe, Sophismen, An¬
leitungen, die von Moses bis auf unsere Tage in Talmud und Literatur zum
Talmud niedergelegt worden sind. Wie oft wird den Juden vorgeworfen, nur
die Strafe hindere sie an der Übertretung eines Gesetzes! Es liegt eine Be¬
rechtigung in diesem Vorwurf, aber nur für den Nichtjuden, nicht für ein Volk,
dem jenes Gesetz des Christen nicht Gesetz ist außer hinsichtlich der Gewalt,
dem Recht und Moral ausschließlich vorgeschrieben werden von der unerreichten
Weltklugheit eines Moses und von der Hoffnung, daß ein neuer Moses das
Volk Israel von Recht und Gesetz der Feinde erlösen werde. Es giebt keinen
trotzigem Staat im Staate als diese jüdische Theokratie in allen Staaten der Welt.

Die Juden werfen den Christen vor, daß, wenn sie an der modernen Bil¬
dung keinen Antheil nehmen, die Ursache davon in dem Umstände liege, daß bis
in unser Jahrhundert herab den Juden der Besuch christlicher Schulen unter¬
sagt war. Dieser Vorwurf ist vollkommen verdient, insofern als sich die Christen
durch jene Haltung nur selbst geschadet haben. Aber er ist schlecht gegründet
von Seiten der jüdischen Anschauungsweise. Denn wären den Juden die christ¬
lichen Schulen geöffnet gewesen, so wäre nur insoweit eine Theilnahme der
Juden an moderner Bildung erfolgt, als dieselben vom Judenthume sich los¬
sagten. So wie das Judenthum war und ist, wären die modern gebildeten
Juden nicht mehr Juden geblieben, und das ist nicht, was das Judenthum
wünscht. Es giebt auch in Polen viele Juden, welche die UnVersöhnlichkeit
moderner Bildung mit dein Talmud einsehen und bereit wären, der Gewalt der
Zeit Rechnung zu tragen. Aber die Gewalt der Theokratie ist größer und weist
alle Concessionen zurück. Es giebt für den Juden kein Verbrechen, das sich
dergleichen ließe mit dem Verbrechen an der Treue gegen sein Volk, seinen
Glauben. Ein Jude mag noch so viel Schuld gegen Recht und Sitte andrer
Völker auf sich laden, er bleibt Jude und als solcher unter Gesetz und Schutz
seines Volkes. Von der Geburt bis zum Tode, von den höchsten Wahrheiten meta¬
physischen Denkens bis zum geringsten Ereigniß des Tageslebens ist der Jude
stets umgeben von den Formen der Satzungen, von dem Geiste der Lehren,
welche das Grundbestreben haben, das Volk Israel aus dem Lande Pharaos
hinauszuführen zu höherm Berufe, es inmitten aller Feinde zusammenzuhalten
w Leben und Denken. Ueberall wird jede Annäherung, jede Gemeinsamkeit mit
andern Völkern sorgfältig abgewehrt; keine Berührung mit Amalek oder Moab
durfte vor drei Jahrtausenden das Volk Gottes entheiligen, und entheiligt wird
^ noch heute durch den Umgang mit andern, mit "den Völkern", den Gojim.

Bis in die äußersten Nichtigkeiten hinein findet der Jude überall die Mah-
nung, keinerlei Gemeinschaft zu haben mit den Gojim, welche dem Volke Gottes
"lebt zieme. Man darf das Gewicht dieser Dinge nicht unterschätzen. Der


als gehindert durch die unzähligen Erfahrungen, Kunstgriffe, Sophismen, An¬
leitungen, die von Moses bis auf unsere Tage in Talmud und Literatur zum
Talmud niedergelegt worden sind. Wie oft wird den Juden vorgeworfen, nur
die Strafe hindere sie an der Übertretung eines Gesetzes! Es liegt eine Be¬
rechtigung in diesem Vorwurf, aber nur für den Nichtjuden, nicht für ein Volk,
dem jenes Gesetz des Christen nicht Gesetz ist außer hinsichtlich der Gewalt,
dem Recht und Moral ausschließlich vorgeschrieben werden von der unerreichten
Weltklugheit eines Moses und von der Hoffnung, daß ein neuer Moses das
Volk Israel von Recht und Gesetz der Feinde erlösen werde. Es giebt keinen
trotzigem Staat im Staate als diese jüdische Theokratie in allen Staaten der Welt.

Die Juden werfen den Christen vor, daß, wenn sie an der modernen Bil¬
dung keinen Antheil nehmen, die Ursache davon in dem Umstände liege, daß bis
in unser Jahrhundert herab den Juden der Besuch christlicher Schulen unter¬
sagt war. Dieser Vorwurf ist vollkommen verdient, insofern als sich die Christen
durch jene Haltung nur selbst geschadet haben. Aber er ist schlecht gegründet
von Seiten der jüdischen Anschauungsweise. Denn wären den Juden die christ¬
lichen Schulen geöffnet gewesen, so wäre nur insoweit eine Theilnahme der
Juden an moderner Bildung erfolgt, als dieselben vom Judenthume sich los¬
sagten. So wie das Judenthum war und ist, wären die modern gebildeten
Juden nicht mehr Juden geblieben, und das ist nicht, was das Judenthum
wünscht. Es giebt auch in Polen viele Juden, welche die UnVersöhnlichkeit
moderner Bildung mit dein Talmud einsehen und bereit wären, der Gewalt der
Zeit Rechnung zu tragen. Aber die Gewalt der Theokratie ist größer und weist
alle Concessionen zurück. Es giebt für den Juden kein Verbrechen, das sich
dergleichen ließe mit dem Verbrechen an der Treue gegen sein Volk, seinen
Glauben. Ein Jude mag noch so viel Schuld gegen Recht und Sitte andrer
Völker auf sich laden, er bleibt Jude und als solcher unter Gesetz und Schutz
seines Volkes. Von der Geburt bis zum Tode, von den höchsten Wahrheiten meta¬
physischen Denkens bis zum geringsten Ereigniß des Tageslebens ist der Jude
stets umgeben von den Formen der Satzungen, von dem Geiste der Lehren,
welche das Grundbestreben haben, das Volk Israel aus dem Lande Pharaos
hinauszuführen zu höherm Berufe, es inmitten aller Feinde zusammenzuhalten
w Leben und Denken. Ueberall wird jede Annäherung, jede Gemeinsamkeit mit
andern Völkern sorgfältig abgewehrt; keine Berührung mit Amalek oder Moab
durfte vor drei Jahrtausenden das Volk Gottes entheiligen, und entheiligt wird
^ noch heute durch den Umgang mit andern, mit „den Völkern", den Gojim.

Bis in die äußersten Nichtigkeiten hinein findet der Jude überall die Mah-
nung, keinerlei Gemeinschaft zu haben mit den Gojim, welche dem Volke Gottes
"lebt zieme. Man darf das Gewicht dieser Dinge nicht unterschätzen. Der


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[0303] als gehindert durch die unzähligen Erfahrungen, Kunstgriffe, Sophismen, An¬ leitungen, die von Moses bis auf unsere Tage in Talmud und Literatur zum Talmud niedergelegt worden sind. Wie oft wird den Juden vorgeworfen, nur die Strafe hindere sie an der Übertretung eines Gesetzes! Es liegt eine Be¬ rechtigung in diesem Vorwurf, aber nur für den Nichtjuden, nicht für ein Volk, dem jenes Gesetz des Christen nicht Gesetz ist außer hinsichtlich der Gewalt, dem Recht und Moral ausschließlich vorgeschrieben werden von der unerreichten Weltklugheit eines Moses und von der Hoffnung, daß ein neuer Moses das Volk Israel von Recht und Gesetz der Feinde erlösen werde. Es giebt keinen trotzigem Staat im Staate als diese jüdische Theokratie in allen Staaten der Welt. Die Juden werfen den Christen vor, daß, wenn sie an der modernen Bil¬ dung keinen Antheil nehmen, die Ursache davon in dem Umstände liege, daß bis in unser Jahrhundert herab den Juden der Besuch christlicher Schulen unter¬ sagt war. Dieser Vorwurf ist vollkommen verdient, insofern als sich die Christen durch jene Haltung nur selbst geschadet haben. Aber er ist schlecht gegründet von Seiten der jüdischen Anschauungsweise. Denn wären den Juden die christ¬ lichen Schulen geöffnet gewesen, so wäre nur insoweit eine Theilnahme der Juden an moderner Bildung erfolgt, als dieselben vom Judenthume sich los¬ sagten. So wie das Judenthum war und ist, wären die modern gebildeten Juden nicht mehr Juden geblieben, und das ist nicht, was das Judenthum wünscht. Es giebt auch in Polen viele Juden, welche die UnVersöhnlichkeit moderner Bildung mit dein Talmud einsehen und bereit wären, der Gewalt der Zeit Rechnung zu tragen. Aber die Gewalt der Theokratie ist größer und weist alle Concessionen zurück. Es giebt für den Juden kein Verbrechen, das sich dergleichen ließe mit dem Verbrechen an der Treue gegen sein Volk, seinen Glauben. Ein Jude mag noch so viel Schuld gegen Recht und Sitte andrer Völker auf sich laden, er bleibt Jude und als solcher unter Gesetz und Schutz seines Volkes. Von der Geburt bis zum Tode, von den höchsten Wahrheiten meta¬ physischen Denkens bis zum geringsten Ereigniß des Tageslebens ist der Jude stets umgeben von den Formen der Satzungen, von dem Geiste der Lehren, welche das Grundbestreben haben, das Volk Israel aus dem Lande Pharaos hinauszuführen zu höherm Berufe, es inmitten aller Feinde zusammenzuhalten w Leben und Denken. Ueberall wird jede Annäherung, jede Gemeinsamkeit mit andern Völkern sorgfältig abgewehrt; keine Berührung mit Amalek oder Moab durfte vor drei Jahrtausenden das Volk Gottes entheiligen, und entheiligt wird ^ noch heute durch den Umgang mit andern, mit „den Völkern", den Gojim. Bis in die äußersten Nichtigkeiten hinein findet der Jude überall die Mah- nung, keinerlei Gemeinschaft zu haben mit den Gojim, welche dem Volke Gottes "lebt zieme. Man darf das Gewicht dieser Dinge nicht unterschätzen. Der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/303>, abgerufen am 29.12.2024.