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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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lassen die Feindschaft gegen alles, was nicht dem Volke Mosis angehört ebenso
wenig theoretisch erkalten, als die Verfolgungen, denen dieses Volk stets ausge¬
setzt war, praktisch das Erlöschen des nationalen Hasses zugeben. Es giebt für
den Juden nicht nur keinen Gott außer Jehovah, sondern auch kein Volk Gottes
außer Israel. Und wenn Christ wie Moslem, Brahmane wie Heide, ein jeder
den Himmel für sich allein in Anspruch nimmt, so ist das beim Juden anders:
er nimmt die Erde für sich in Anspruch. Es ist die Lehre aller Religionen,
daß ihnen die Herrschaft im andern Leben zukomme; aber das andere Leben,
welches die Summe, die Hauptsache der nichtjüdischer Lehren ausmacht, ist dem
Juden von minderer Bedeutung als das gegenwärtige Leben. Es hat Lehrer
sogar unter den Juden selbst gegeben, welche behaupteten, das alte Testament,
die jüdische Bibel lehre nicht die Unsterblichkeit der Seele. Wenn dem auch so
wäre, so kann man doch nicht verkennen, daß die heutigen Anhänger dieser Bibel
und des Talmud durchdrungen sind von dem Glauben an die Unsterblichkeit
der Seele. Aber ihre Heimat im Glauben ist doch nicht wie bei Christ oder
Moslem der Himmel, sondern die Erde. Bibel und Talmud gipfeln in der
Verheißung, daß dem Volke Gottes einst die Herrschaft nicht im Himmel, son¬
dern auf Erden werde gegeben werden. Der Messias ist ein Gott dieser, nicht
jener Welt, und alle Ordnungen und Satzungen des Talmud sind von dieser
Welt und bereiten auf die verheißene irdische Herrschaft vor. Solcher Herr¬
schaft aber wird sich nur der erfreuen, der mit dem Geiste des Talmud und
des strengen Jehovah vom Sinai gewappnet ist. Eine Religion, deren Endziel
das himmlische Glück ist, wird ihren Jüngern auf Erden manche Freiheit der
Bewegung gestatten, wenn nur zuletzt in der Stunde des Todes der Glaube
an das Jenseits und an die hinüberleitende Hand des Priesters vorhanden ist;
eine Religion, deren Ziel die Herrschaft auf Erden ist, wird ihre Jünger mit
aller Strenge während des ganzen Lebens auf die Möglichkeit vorbereiten, daß
plötzlich der Messias sein Volk aufrufe zum Antritt der Herrschaft. Es ist
mehr eine stete Einübung für den irdischen Kampf, als eine Erziehung zum
Dulden oder zur künftigen Vergeltung. Das Judenthum ist noch heute wie
ehedem eine Theokratie, wenn auch ohne Land, eine strenge, starre Theo-
kratie mit ihrem drohenden Gesetzgeber vom Sinai, mit ihrer leitenden Prie¬
sterschaft, mit ihrer Beherrschung allen Volkslebens vom Standpunkte des gött¬
lichen Gebotes, vom Standpunkte der Religion aus. Es ist umsomehr in theo-
kratischen abstracten Formen verhärtet, als ihm das frische Leben wirklichen
Staatenthnms, praktisch politischen Schaffens fehlt. Die gesammte ideale Welt
dieser Theokratie ist in den alten Priesterlehren eingemauert, und die reale Welt
allein, die Begriffe des Erwerbens, des Eigenthums, der praktischen Thätigkeit
haben volle Freiheit der Bewegung, mehr unterstützt und mit Waffen versehen,


lassen die Feindschaft gegen alles, was nicht dem Volke Mosis angehört ebenso
wenig theoretisch erkalten, als die Verfolgungen, denen dieses Volk stets ausge¬
setzt war, praktisch das Erlöschen des nationalen Hasses zugeben. Es giebt für
den Juden nicht nur keinen Gott außer Jehovah, sondern auch kein Volk Gottes
außer Israel. Und wenn Christ wie Moslem, Brahmane wie Heide, ein jeder
den Himmel für sich allein in Anspruch nimmt, so ist das beim Juden anders:
er nimmt die Erde für sich in Anspruch. Es ist die Lehre aller Religionen,
daß ihnen die Herrschaft im andern Leben zukomme; aber das andere Leben,
welches die Summe, die Hauptsache der nichtjüdischer Lehren ausmacht, ist dem
Juden von minderer Bedeutung als das gegenwärtige Leben. Es hat Lehrer
sogar unter den Juden selbst gegeben, welche behaupteten, das alte Testament,
die jüdische Bibel lehre nicht die Unsterblichkeit der Seele. Wenn dem auch so
wäre, so kann man doch nicht verkennen, daß die heutigen Anhänger dieser Bibel
und des Talmud durchdrungen sind von dem Glauben an die Unsterblichkeit
der Seele. Aber ihre Heimat im Glauben ist doch nicht wie bei Christ oder
Moslem der Himmel, sondern die Erde. Bibel und Talmud gipfeln in der
Verheißung, daß dem Volke Gottes einst die Herrschaft nicht im Himmel, son¬
dern auf Erden werde gegeben werden. Der Messias ist ein Gott dieser, nicht
jener Welt, und alle Ordnungen und Satzungen des Talmud sind von dieser
Welt und bereiten auf die verheißene irdische Herrschaft vor. Solcher Herr¬
schaft aber wird sich nur der erfreuen, der mit dem Geiste des Talmud und
des strengen Jehovah vom Sinai gewappnet ist. Eine Religion, deren Endziel
das himmlische Glück ist, wird ihren Jüngern auf Erden manche Freiheit der
Bewegung gestatten, wenn nur zuletzt in der Stunde des Todes der Glaube
an das Jenseits und an die hinüberleitende Hand des Priesters vorhanden ist;
eine Religion, deren Ziel die Herrschaft auf Erden ist, wird ihre Jünger mit
aller Strenge während des ganzen Lebens auf die Möglichkeit vorbereiten, daß
plötzlich der Messias sein Volk aufrufe zum Antritt der Herrschaft. Es ist
mehr eine stete Einübung für den irdischen Kampf, als eine Erziehung zum
Dulden oder zur künftigen Vergeltung. Das Judenthum ist noch heute wie
ehedem eine Theokratie, wenn auch ohne Land, eine strenge, starre Theo-
kratie mit ihrem drohenden Gesetzgeber vom Sinai, mit ihrer leitenden Prie¬
sterschaft, mit ihrer Beherrschung allen Volkslebens vom Standpunkte des gött¬
lichen Gebotes, vom Standpunkte der Religion aus. Es ist umsomehr in theo-
kratischen abstracten Formen verhärtet, als ihm das frische Leben wirklichen
Staatenthnms, praktisch politischen Schaffens fehlt. Die gesammte ideale Welt
dieser Theokratie ist in den alten Priesterlehren eingemauert, und die reale Welt
allein, die Begriffe des Erwerbens, des Eigenthums, der praktischen Thätigkeit
haben volle Freiheit der Bewegung, mehr unterstützt und mit Waffen versehen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/302>, abgerufen am 28.12.2024.