Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.und alles gemüthliche Leben des Juden geht im Talmud auf. Wer die Gesetze, Bei dieser versteinerten Verfassung des jüdischen Wissens ist es natürlich, Sobald ein Jude unternimmt, sich die moderne Bildung anzueignen, läuft Grenzboten IV. 1830. 39
und alles gemüthliche Leben des Juden geht im Talmud auf. Wer die Gesetze, Bei dieser versteinerten Verfassung des jüdischen Wissens ist es natürlich, Sobald ein Jude unternimmt, sich die moderne Bildung anzueignen, läuft Grenzboten IV. 1830. 39
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und alles gemüthliche Leben des Juden geht im Talmud auf. Wer die Gesetze,
die Gebete und die Bibel kennt, ist ein gebildeter Jude; wer in der Mischn«
bewandert ist, ist ein gelehrter Jude; wer einen Theil der Tractate des Talmud
kennt, wer etwas von der Gemara, von Sohar und More-Nebuchim, von der
Midraschliteratur, der Literatur des Talmud kennt, ist ein Weiser und Lehrer
in Israel. Zu ihm wallfahrtet alles in jeder Streitfrage des Lebens. Hat
jemand am Sabbath aus Versehen etwas in der Tasche getragen, ist ein Zwist
unter Eheleuten ausgebrochen, findet sich ein ungewöhnlicher Flecken am Lungen¬
fell des geschlachteten Huhnes, bis in die kleinsten Falten des geschäftlichen, ehe¬
lichen, häuslichen Lebens hinein, immer muß der Weise, der Rabbi zum Talmud
greifen, wo er über den geringsten Fall eine Fülle von Beispielen findet und,
wenn das passende ausgewählt ist, auch die Verordnung, was in diesem Falle
zu geschehen habe. Keine Abweichung wird geduldet, sei es daß sie die reli¬
giösen Lehren, sei es daß sie die Anschauungen eines Talmudisten des 3. Jahr¬
hunderts über die physikalische Beschaffenheit des Salzes oder den Blutumlauf
im menschlichen Körper betreffe.
Bei dieser versteinerten Verfassung des jüdischen Wissens ist es natürlich,
daß, sobald ein Jude sich außerhalb eines Trcictates des Talmud stellt, er außer¬
halb des Judenthums selbst sich befindet. Das profane Wissen außerhalb des
Talmud ist ebenso Abfall vom Judenthum wie der Glaube an andere Götter
als den Gott Mosis. Wer der Meinung ist, daß die Erde sich so bewege, wie
Kopernikus es dachte, nicht aber sich so drehe, wie ein alter Talmudist es ein¬
mal vermuthete, der ist kein Jude mehr. Denn auf der einen Seite stehen seine
alten Glaubensgenossen mit ihrer Anschauung, daß im Talmud alles Wissen des
Menschengeschlechtes für alle Zeiten niedergelegt und enthalten sei, und beginnen
daher jenen als einen Abtrünnigen anzusehen; auf der andern Seite merkt
dieser selbst gar bald, daß er nur die Wahl habe, entweder sofort den Koperni¬
kus und alle moderne Wissenschaft aufzugeben, oder aber nicht bloß die talmu-
distische Physik und Astronomie, sondern den ganzen Talmud, das ist das
Judenthum überhaupt aufzugeben.
Sobald ein Jude unternimmt, sich die moderne Bildung anzueignen, läuft
er Gefahr, Christ oder Heide oder Atheist zu werden, also für das Judenthum
verloren zu gehen. Selten hält er an dem äußern Zusammenhange mit dem
strengen Judenthume fest, noch seltener bleibt er ihm innig ergeben. Auf diese
Weise bleibt das talmudische Judenthum fort und fort außerhalb der Einwirkung
von Wissen und Glauben der Neuzeit. In Warschau, Wilna, Lemberg, Czer-
nowitz brütet der uralte Geist mosaischer Selbstgenügsamkeit unangetastet über
den ehrwürdigen aber unzeitgemäßer halachischen Lehren und den spitzfindigen
oder tiefsinnigen Erzählungen der Hagada. Diese Schriften und Traditionen
Grenzboten IV. 1830. 39
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