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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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Sprachen. Aber coordinirt müßten sie beide sein, d. h. die Abgangszeugnisse beider
Gymnasien müßten die gleiche Berechtigung haben. Dann könnte ein Jeder
wählen, wohin ihn Neigung und Begabung treibt. Die Leistungen würden
größer, die Inanspruchnahme unserer Jugend in geistiger Beziehung geringer
werden. Die Befürchtung, daß es dann eines Tages einem Realschul-Abiturienten
einfallen könnte, auf der Universität anstatt Mathematik Theologie zu studiren,
liegt wohl nicht nahe; ganz abgesehen von der Schwierigkeit, sich nach dem Ab¬
gang von der Schule die erforderlichen Kenntnisse im Lateinischen und Griechischen
zu erwerben. Und sollte dieser Fall wirklich eintreten, so würde dies auch nicht
schaden. Er könnte beweisen, daß eine gründliche mathematische und naturwissen¬
schaftliche Bildung sich recht gut mit der Theologie verträgt, daß beide sich nicht
ausschließen, soudern wohlthuend ergänzen, daß man ein hervorragender Natur¬
forscher und zugleich ein rechtgläubiger Christ sein kann. Der Versuch ist noch
nicht gemacht. Aber wenn er gemacht würde, so zweifle ich nicht, daß er zum Segen
ausfallen würde. Wer dann das Größere zu leisten im Stande sein wird, der Real¬
schüler oder der Humanist, kann mir nach meinen Erfahrungen über die geistige
Veranlagung der Menschen nicht zweifelhaft sein. Mit einem guten Gedächtniß, wo
die entsprechende geistige Begabung fehlt (eine fehr häufig zu beobachtende Er¬
scheinung), ist auf einem humanistischen Gymnasium im Allgemeinen verhältnißmäßig
ungleich mehr zu erreichen als auf der Realschule, wo eine gute geistige Veran¬
lagung die erste und vornehmste Vorbedingung zu einem erfolgreichen Weiter¬
kommen ist. Bezeichnend ist jedenfalls die Thatsache, und wir haben sie in
Irrenanstalten häufig zu beobachten Gelegenheit, daß geistig in der Entwicklung
zurückgebliebene junge Leute ein sehr gutes Gedächtniß haben und mit Hilfe des¬
selben im Lateinischen und Griechische" verhältnißmäßig sehr tüchtiges leisten, aber
nicht im Stande sind, die einfachsten mathematischen Aufgaben geistig zu ver¬
arbeiten." So weit Dr. Hasse. Seine Schlußfolgerung ist also offenbar folgende:
"Die humanistischen Gymnasien sind ungesunde, Nervosität und Irrsinn fordernde
Anstalten. Folglich lasse man sie bei geringerer Betonung der Mathematik und
Naturwissenschaften im wesentlichen wie sie sind, gebe aber den Realschulen erster
Ordnung mit ihnen gleiche Berechtigungen."

Der Verfasser dieser Zeilen gesteht offen, daß er Herrn Dr. Hasse in dieser
kühnen Schlußfolgerung nicht zu folgen vermag, und verhehlt es nicht, daß
er bisher immer die Ansicht gehegt hat und noch hegt, daß der Lehrplan
der Realschulen erster Ordnung noch zersplitterter ist und keineswegs geringere
Anforderungen an die Arbeitszeit der Schüler stellt, als der des humanistischen
Gymnasiums. Zur Begründung dieser Ansicht genügt es wohl, ans das hinzu¬
weisen, was auf der Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Ge¬
sundheitspflege zu Nürnberg im Jahre 1877 der Stadtbezirksarzt Dr. niedrer


Sprachen. Aber coordinirt müßten sie beide sein, d. h. die Abgangszeugnisse beider
Gymnasien müßten die gleiche Berechtigung haben. Dann könnte ein Jeder
wählen, wohin ihn Neigung und Begabung treibt. Die Leistungen würden
größer, die Inanspruchnahme unserer Jugend in geistiger Beziehung geringer
werden. Die Befürchtung, daß es dann eines Tages einem Realschul-Abiturienten
einfallen könnte, auf der Universität anstatt Mathematik Theologie zu studiren,
liegt wohl nicht nahe; ganz abgesehen von der Schwierigkeit, sich nach dem Ab¬
gang von der Schule die erforderlichen Kenntnisse im Lateinischen und Griechischen
zu erwerben. Und sollte dieser Fall wirklich eintreten, so würde dies auch nicht
schaden. Er könnte beweisen, daß eine gründliche mathematische und naturwissen¬
schaftliche Bildung sich recht gut mit der Theologie verträgt, daß beide sich nicht
ausschließen, soudern wohlthuend ergänzen, daß man ein hervorragender Natur¬
forscher und zugleich ein rechtgläubiger Christ sein kann. Der Versuch ist noch
nicht gemacht. Aber wenn er gemacht würde, so zweifle ich nicht, daß er zum Segen
ausfallen würde. Wer dann das Größere zu leisten im Stande sein wird, der Real¬
schüler oder der Humanist, kann mir nach meinen Erfahrungen über die geistige
Veranlagung der Menschen nicht zweifelhaft sein. Mit einem guten Gedächtniß, wo
die entsprechende geistige Begabung fehlt (eine fehr häufig zu beobachtende Er¬
scheinung), ist auf einem humanistischen Gymnasium im Allgemeinen verhältnißmäßig
ungleich mehr zu erreichen als auf der Realschule, wo eine gute geistige Veran¬
lagung die erste und vornehmste Vorbedingung zu einem erfolgreichen Weiter¬
kommen ist. Bezeichnend ist jedenfalls die Thatsache, und wir haben sie in
Irrenanstalten häufig zu beobachten Gelegenheit, daß geistig in der Entwicklung
zurückgebliebene junge Leute ein sehr gutes Gedächtniß haben und mit Hilfe des¬
selben im Lateinischen und Griechische« verhältnißmäßig sehr tüchtiges leisten, aber
nicht im Stande sind, die einfachsten mathematischen Aufgaben geistig zu ver¬
arbeiten." So weit Dr. Hasse. Seine Schlußfolgerung ist also offenbar folgende:
„Die humanistischen Gymnasien sind ungesunde, Nervosität und Irrsinn fordernde
Anstalten. Folglich lasse man sie bei geringerer Betonung der Mathematik und
Naturwissenschaften im wesentlichen wie sie sind, gebe aber den Realschulen erster
Ordnung mit ihnen gleiche Berechtigungen."

Der Verfasser dieser Zeilen gesteht offen, daß er Herrn Dr. Hasse in dieser
kühnen Schlußfolgerung nicht zu folgen vermag, und verhehlt es nicht, daß
er bisher immer die Ansicht gehegt hat und noch hegt, daß der Lehrplan
der Realschulen erster Ordnung noch zersplitterter ist und keineswegs geringere
Anforderungen an die Arbeitszeit der Schüler stellt, als der des humanistischen
Gymnasiums. Zur Begründung dieser Ansicht genügt es wohl, ans das hinzu¬
weisen, was auf der Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Ge¬
sundheitspflege zu Nürnberg im Jahre 1877 der Stadtbezirksarzt Dr. niedrer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/30>, abgerufen am 28.12.2024.