Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

gemeinsamem Wirken verbinden müssen. Von unsern braunschweigischen Gym¬
nasien ist glücklicherweise bisher ein solches Unwesen nicht bekannt geworden.
Aber an den Keimen dazu fehlt es nicht, auch hier tritt hie und da bei der Jugend
eine Genußsucht, ein Hang zum Vergnügen, eine Lust zur Zerstreuung, eine
Vorwegnahme dessen, was einem späteren Alter vorbehalten sein sollte, in einer
Weise hervor, die zu der ernstesten Wachsamkeit mahnt. Die Gefahr aber, daß
unsere Gymnasialjugend aus dem Bereich des Idealen in die Fesseln einer
groben Sinnlichkeit hinabsinkt, daß ihr über dem Haschen nach flüchtigem
Genuß das Ewige verloren geht, daß sie in dem Cultus des eigenen Ichs das
Interesse für das Allgemeine aufgiebt, dieser Gefahr gegenüber ist gerade die
Gymnasialerziehung mit ihrer ernsten und strengen Geistesarbeit ein Palladium,
wie es ein besseres nicht geben kann. Gott gebe, daß dieses Palladium unseren:
Vaterlande nie verkümmert oder gar entrissen werde!

Bevor wir schließen, sei noch ein Wort über die Vorschläge gestattet, zu
denen Herrn Dr. Hasse seine Ueberzeugung von der Ueberbttrdnng der Gym¬
nasiasten Anlaß giebt.

Man sollte erwarten, daß ihn die Große des von ihm vorausgesetzten
Uebels zu der Forderung hätte führen müssen, das humanistische Gymnasium
einer gründlichen und durchgreifenden Reform zu unterwerfen, seinen Lehrplan
zu vereinfachen, seine Lehrziele herabzumindern, und dergl. mehr. Von alledem
aber sagt er nichts, und wenn er tadelnd bemerkt, daß die Abiturientenexamina
ergeben, daß in den Gymnasien zwar irmltg, aber nicht irmlwm gelernt werde,
so spricht er sich leider weder darüber aus, welcher von den Priifuugsgegenständen
des Gymnasiums (Religion, Deutsch, Latein, Griechisch, Französisch, Mathematik,
Geschichte und Geographie) gestrichen werden soll, noch giebt er eine Andeutung
darüber, wie er sich das vermißte irmltuiu in den Studium eines 19- bis
20 jährigen jungen Mannes gedacht hat. Das einzige, wovon er eine Abhilfe
der Ueberbürdung erwartet, ist eine völlige Gleichstellung der Realschule erster Ord¬
nung mit den humanistischen Gymnasien. Er läßt sich über diesen auch von
Anderen vielfach vorgebrachten Vorschlag in der "Gegenwart" folgendermaßen
vernehmen:

"Ich gebe zu, daß die übermäßigen Anforderungen an die Ausbildung unserer
Jugend auf den Gymnasien in den Zeitverhältnissen begründet liegen. Wenn
dem aber so ist, dann sollte die Arbeit getheilt werden, um von zwei Uebeln das
kleinere zu wählen. Lassen wir doch die humanistischen Schulen, wie sie bisher
waren, mit geringerer Betonung der Naturwissenschaften und der Mathematik,
dagegen in voller Thätigkeit in dem Erlernen und Bearbeiten der alten Sprachen;
und daneben, aber vollständig eoordinirt, die Realschulen erster Ordnung, mit
vorwiegender Betonung der Naturwissenschaften, der Mathematik und der neueren


Grenzboten IV. 1830. 4

gemeinsamem Wirken verbinden müssen. Von unsern braunschweigischen Gym¬
nasien ist glücklicherweise bisher ein solches Unwesen nicht bekannt geworden.
Aber an den Keimen dazu fehlt es nicht, auch hier tritt hie und da bei der Jugend
eine Genußsucht, ein Hang zum Vergnügen, eine Lust zur Zerstreuung, eine
Vorwegnahme dessen, was einem späteren Alter vorbehalten sein sollte, in einer
Weise hervor, die zu der ernstesten Wachsamkeit mahnt. Die Gefahr aber, daß
unsere Gymnasialjugend aus dem Bereich des Idealen in die Fesseln einer
groben Sinnlichkeit hinabsinkt, daß ihr über dem Haschen nach flüchtigem
Genuß das Ewige verloren geht, daß sie in dem Cultus des eigenen Ichs das
Interesse für das Allgemeine aufgiebt, dieser Gefahr gegenüber ist gerade die
Gymnasialerziehung mit ihrer ernsten und strengen Geistesarbeit ein Palladium,
wie es ein besseres nicht geben kann. Gott gebe, daß dieses Palladium unseren:
Vaterlande nie verkümmert oder gar entrissen werde!

Bevor wir schließen, sei noch ein Wort über die Vorschläge gestattet, zu
denen Herrn Dr. Hasse seine Ueberzeugung von der Ueberbttrdnng der Gym¬
nasiasten Anlaß giebt.

Man sollte erwarten, daß ihn die Große des von ihm vorausgesetzten
Uebels zu der Forderung hätte führen müssen, das humanistische Gymnasium
einer gründlichen und durchgreifenden Reform zu unterwerfen, seinen Lehrplan
zu vereinfachen, seine Lehrziele herabzumindern, und dergl. mehr. Von alledem
aber sagt er nichts, und wenn er tadelnd bemerkt, daß die Abiturientenexamina
ergeben, daß in den Gymnasien zwar irmltg, aber nicht irmlwm gelernt werde,
so spricht er sich leider weder darüber aus, welcher von den Priifuugsgegenständen
des Gymnasiums (Religion, Deutsch, Latein, Griechisch, Französisch, Mathematik,
Geschichte und Geographie) gestrichen werden soll, noch giebt er eine Andeutung
darüber, wie er sich das vermißte irmltuiu in den Studium eines 19- bis
20 jährigen jungen Mannes gedacht hat. Das einzige, wovon er eine Abhilfe
der Ueberbürdung erwartet, ist eine völlige Gleichstellung der Realschule erster Ord¬
nung mit den humanistischen Gymnasien. Er läßt sich über diesen auch von
Anderen vielfach vorgebrachten Vorschlag in der „Gegenwart" folgendermaßen
vernehmen:

„Ich gebe zu, daß die übermäßigen Anforderungen an die Ausbildung unserer
Jugend auf den Gymnasien in den Zeitverhältnissen begründet liegen. Wenn
dem aber so ist, dann sollte die Arbeit getheilt werden, um von zwei Uebeln das
kleinere zu wählen. Lassen wir doch die humanistischen Schulen, wie sie bisher
waren, mit geringerer Betonung der Naturwissenschaften und der Mathematik,
dagegen in voller Thätigkeit in dem Erlernen und Bearbeiten der alten Sprachen;
und daneben, aber vollständig eoordinirt, die Realschulen erster Ordnung, mit
vorwiegender Betonung der Naturwissenschaften, der Mathematik und der neueren


Grenzboten IV. 1830. 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0029" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147676"/>
          <p xml:id="ID_73" prev="#ID_72"> gemeinsamem Wirken verbinden müssen. Von unsern braunschweigischen Gym¬<lb/>
nasien ist glücklicherweise bisher ein solches Unwesen nicht bekannt geworden.<lb/>
Aber an den Keimen dazu fehlt es nicht, auch hier tritt hie und da bei der Jugend<lb/>
eine Genußsucht, ein Hang zum Vergnügen, eine Lust zur Zerstreuung, eine<lb/>
Vorwegnahme dessen, was einem späteren Alter vorbehalten sein sollte, in einer<lb/>
Weise hervor, die zu der ernstesten Wachsamkeit mahnt. Die Gefahr aber, daß<lb/>
unsere Gymnasialjugend aus dem Bereich des Idealen in die Fesseln einer<lb/>
groben Sinnlichkeit hinabsinkt, daß ihr über dem Haschen nach flüchtigem<lb/>
Genuß das Ewige verloren geht, daß sie in dem Cultus des eigenen Ichs das<lb/>
Interesse für das Allgemeine aufgiebt, dieser Gefahr gegenüber ist gerade die<lb/>
Gymnasialerziehung mit ihrer ernsten und strengen Geistesarbeit ein Palladium,<lb/>
wie es ein besseres nicht geben kann. Gott gebe, daß dieses Palladium unseren:<lb/>
Vaterlande nie verkümmert oder gar entrissen werde!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_74"> Bevor wir schließen, sei noch ein Wort über die Vorschläge gestattet, zu<lb/>
denen Herrn Dr. Hasse seine Ueberzeugung von der Ueberbttrdnng der Gym¬<lb/>
nasiasten Anlaß giebt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_75"> Man sollte erwarten, daß ihn die Große des von ihm vorausgesetzten<lb/>
Uebels zu der Forderung hätte führen müssen, das humanistische Gymnasium<lb/>
einer gründlichen und durchgreifenden Reform zu unterwerfen, seinen Lehrplan<lb/>
zu vereinfachen, seine Lehrziele herabzumindern, und dergl. mehr. Von alledem<lb/>
aber sagt er nichts, und wenn er tadelnd bemerkt, daß die Abiturientenexamina<lb/>
ergeben, daß in den Gymnasien zwar irmltg, aber nicht irmlwm gelernt werde,<lb/>
so spricht er sich leider weder darüber aus, welcher von den Priifuugsgegenständen<lb/>
des Gymnasiums (Religion, Deutsch, Latein, Griechisch, Französisch, Mathematik,<lb/>
Geschichte und Geographie) gestrichen werden soll, noch giebt er eine Andeutung<lb/>
darüber, wie er sich das vermißte irmltuiu in den Studium eines 19- bis<lb/>
20 jährigen jungen Mannes gedacht hat. Das einzige, wovon er eine Abhilfe<lb/>
der Ueberbürdung erwartet, ist eine völlige Gleichstellung der Realschule erster Ord¬<lb/>
nung mit den humanistischen Gymnasien. Er läßt sich über diesen auch von<lb/>
Anderen vielfach vorgebrachten Vorschlag in der &#x201E;Gegenwart" folgendermaßen<lb/>
vernehmen:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_76" next="#ID_77"> &#x201E;Ich gebe zu, daß die übermäßigen Anforderungen an die Ausbildung unserer<lb/>
Jugend auf den Gymnasien in den Zeitverhältnissen begründet liegen. Wenn<lb/>
dem aber so ist, dann sollte die Arbeit getheilt werden, um von zwei Uebeln das<lb/>
kleinere zu wählen. Lassen wir doch die humanistischen Schulen, wie sie bisher<lb/>
waren, mit geringerer Betonung der Naturwissenschaften und der Mathematik,<lb/>
dagegen in voller Thätigkeit in dem Erlernen und Bearbeiten der alten Sprachen;<lb/>
und daneben, aber vollständig eoordinirt, die Realschulen erster Ordnung, mit<lb/>
vorwiegender Betonung der Naturwissenschaften, der Mathematik und der neueren</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. 1830. 4</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0029] gemeinsamem Wirken verbinden müssen. Von unsern braunschweigischen Gym¬ nasien ist glücklicherweise bisher ein solches Unwesen nicht bekannt geworden. Aber an den Keimen dazu fehlt es nicht, auch hier tritt hie und da bei der Jugend eine Genußsucht, ein Hang zum Vergnügen, eine Lust zur Zerstreuung, eine Vorwegnahme dessen, was einem späteren Alter vorbehalten sein sollte, in einer Weise hervor, die zu der ernstesten Wachsamkeit mahnt. Die Gefahr aber, daß unsere Gymnasialjugend aus dem Bereich des Idealen in die Fesseln einer groben Sinnlichkeit hinabsinkt, daß ihr über dem Haschen nach flüchtigem Genuß das Ewige verloren geht, daß sie in dem Cultus des eigenen Ichs das Interesse für das Allgemeine aufgiebt, dieser Gefahr gegenüber ist gerade die Gymnasialerziehung mit ihrer ernsten und strengen Geistesarbeit ein Palladium, wie es ein besseres nicht geben kann. Gott gebe, daß dieses Palladium unseren: Vaterlande nie verkümmert oder gar entrissen werde! Bevor wir schließen, sei noch ein Wort über die Vorschläge gestattet, zu denen Herrn Dr. Hasse seine Ueberzeugung von der Ueberbttrdnng der Gym¬ nasiasten Anlaß giebt. Man sollte erwarten, daß ihn die Große des von ihm vorausgesetzten Uebels zu der Forderung hätte führen müssen, das humanistische Gymnasium einer gründlichen und durchgreifenden Reform zu unterwerfen, seinen Lehrplan zu vereinfachen, seine Lehrziele herabzumindern, und dergl. mehr. Von alledem aber sagt er nichts, und wenn er tadelnd bemerkt, daß die Abiturientenexamina ergeben, daß in den Gymnasien zwar irmltg, aber nicht irmlwm gelernt werde, so spricht er sich leider weder darüber aus, welcher von den Priifuugsgegenständen des Gymnasiums (Religion, Deutsch, Latein, Griechisch, Französisch, Mathematik, Geschichte und Geographie) gestrichen werden soll, noch giebt er eine Andeutung darüber, wie er sich das vermißte irmltuiu in den Studium eines 19- bis 20 jährigen jungen Mannes gedacht hat. Das einzige, wovon er eine Abhilfe der Ueberbürdung erwartet, ist eine völlige Gleichstellung der Realschule erster Ord¬ nung mit den humanistischen Gymnasien. Er läßt sich über diesen auch von Anderen vielfach vorgebrachten Vorschlag in der „Gegenwart" folgendermaßen vernehmen: „Ich gebe zu, daß die übermäßigen Anforderungen an die Ausbildung unserer Jugend auf den Gymnasien in den Zeitverhältnissen begründet liegen. Wenn dem aber so ist, dann sollte die Arbeit getheilt werden, um von zwei Uebeln das kleinere zu wählen. Lassen wir doch die humanistischen Schulen, wie sie bisher waren, mit geringerer Betonung der Naturwissenschaften und der Mathematik, dagegen in voller Thätigkeit in dem Erlernen und Bearbeiten der alten Sprachen; und daneben, aber vollständig eoordinirt, die Realschulen erster Ordnung, mit vorwiegender Betonung der Naturwissenschaften, der Mathematik und der neueren Grenzboten IV. 1830. 4

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/29
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/29>, abgerufen am 28.12.2024.