Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.In den übrigen Novellen der "Leute von Seldwyla" waltet der Humor In den übrigen Novellen der „Leute von Seldwyla" waltet der Humor <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0016" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147663"/> <p xml:id="ID_39" next="#ID_40"> In den übrigen Novellen der „Leute von Seldwyla" waltet der Humor<lb/> vor, und zwar entweder souverän und mit fortreißender Gewalt wie in den<lb/> Geschichten „Die drei gerechten Kammmacher" und „Kleider machen Leute" oder<lb/> als ein Feuer, welches die spröderen, lehrhaft angehauchten Novellen „Frau<lb/> Regel Amrain" und „Der Schmied feines Glückes" in Schmelz und Fluß bringt.<lb/> Auch bei ihnen müßte jede eingehende Charakteristik die Novelle nacherzählen<lb/> und würde doch nicht im Stande fein, den Reichthum der äußeren und der Psycho¬<lb/> logischen Einzelzüge und ihr bedeutsames Verhältniß zu einander zu vergegen¬<lb/> wärtigen. In den beiden letztgenannten Novellen, denen sich nach dieser Rich¬<lb/> tung hin „Pcmcraz der Schmoller", „Das verlorene Lachen" und „Die mi߬<lb/> brauchten Liebesbriefe" anschließen, tritt die besondere Neigung Kellers hervor,<lb/> in seinen Novellen statt eines bedeutenden Lebensmoments ganze Lebensläufe<lb/> wiederzuspiegeln. Natürlich hat diese Neigung nichts gemein mit der mo-<lb/> ralisirend biographischen Erzählung, die in den rationalistischen Wochenschriften<lb/> des vorigen Jahrhunderts herrschte und wohl gelegentlich wieder auftaucht.<lb/> Vielmehr handelt es sich in den Novellen der „Leute von Seldwyla" überall<lb/> entweder um einen eigenartigen Charakter, der nur plastisch und eindrucksvoll<lb/> werden kann, indem ihn der Dichter durch die verschiedensten Momente seines<lb/> Lebens hindurch begleitet, oder es gilt einen jener Gegensätze, eines jener<lb/> eigenthümlichen Verhältnisse des realen Lebens darzustellen, in denen sich<lb/> Wirrsal und Widerspruch des Weltlaufs offenbaren und die der Mensch<lb/> aus sich heraus nur unter dem Einflüsse guter Gestirne zu besiegen vermag.<lb/> Darin ist Keller (wie ihn Heyses Sonett nennt) der „Shakespeare der Novelle",<lb/> daß er das lebendigste Gefühl für die Totalität der dauernden Zustände wie<lb/> für die Gewalt des Augenblicks hat, und daß ihm namentlich jene innerlich<lb/> bedeutenden Momente aufgehen, in welchen der unscheinbarste, anscheinend nich¬<lb/> tigste Vorgang entscheidende Wandlungen des Menschen, weitnachwirkende Ent¬<lb/> schlüsse der Seele hervorruft. Ein Dichter wie dieser ist der Gefahr, stellenweise<lb/> platt und langweilig zu werden, nie ausgesetzt; der anderen hingegen, welche<lb/> mit der Darstellung ganzer Lebensläufe verbunden ist: einer gewissen Ungleich¬<lb/> heit des Tones und der Hereinnahme prosaisch nüchterner Momente in die<lb/> poetische Wiederspiegelung des Lebens, entrinnt auch er nicht ganz. Indeß läßt<lb/> sich, so weit es sich nicht um ganz vereinzelte Reflexionen und Meinungsäuße¬<lb/> rungen, um gewisse geradezu störende Episoden handelt, die den Verhältnissen<lb/> der Schweiz entstammen und mit dichterische» Aufgaben wenigstens da nichts<lb/> zu thun haben, wo sie stehen (wir erinnern hier nur an die carrikirende Cha¬<lb/> rakteristik des schönselig rationalistischen Theologen im „Verlorenen Lachen"),<lb/> hervorheben, daß auch unter zwei ästhetischen Gefahren lieber die kleinere gewühlt<lb/> werden muß. Nicht immer spiegelt sich das Verhältniß eines Menschen zur</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0016]
In den übrigen Novellen der „Leute von Seldwyla" waltet der Humor
vor, und zwar entweder souverän und mit fortreißender Gewalt wie in den
Geschichten „Die drei gerechten Kammmacher" und „Kleider machen Leute" oder
als ein Feuer, welches die spröderen, lehrhaft angehauchten Novellen „Frau
Regel Amrain" und „Der Schmied feines Glückes" in Schmelz und Fluß bringt.
Auch bei ihnen müßte jede eingehende Charakteristik die Novelle nacherzählen
und würde doch nicht im Stande fein, den Reichthum der äußeren und der Psycho¬
logischen Einzelzüge und ihr bedeutsames Verhältniß zu einander zu vergegen¬
wärtigen. In den beiden letztgenannten Novellen, denen sich nach dieser Rich¬
tung hin „Pcmcraz der Schmoller", „Das verlorene Lachen" und „Die mi߬
brauchten Liebesbriefe" anschließen, tritt die besondere Neigung Kellers hervor,
in seinen Novellen statt eines bedeutenden Lebensmoments ganze Lebensläufe
wiederzuspiegeln. Natürlich hat diese Neigung nichts gemein mit der mo-
ralisirend biographischen Erzählung, die in den rationalistischen Wochenschriften
des vorigen Jahrhunderts herrschte und wohl gelegentlich wieder auftaucht.
Vielmehr handelt es sich in den Novellen der „Leute von Seldwyla" überall
entweder um einen eigenartigen Charakter, der nur plastisch und eindrucksvoll
werden kann, indem ihn der Dichter durch die verschiedensten Momente seines
Lebens hindurch begleitet, oder es gilt einen jener Gegensätze, eines jener
eigenthümlichen Verhältnisse des realen Lebens darzustellen, in denen sich
Wirrsal und Widerspruch des Weltlaufs offenbaren und die der Mensch
aus sich heraus nur unter dem Einflüsse guter Gestirne zu besiegen vermag.
Darin ist Keller (wie ihn Heyses Sonett nennt) der „Shakespeare der Novelle",
daß er das lebendigste Gefühl für die Totalität der dauernden Zustände wie
für die Gewalt des Augenblicks hat, und daß ihm namentlich jene innerlich
bedeutenden Momente aufgehen, in welchen der unscheinbarste, anscheinend nich¬
tigste Vorgang entscheidende Wandlungen des Menschen, weitnachwirkende Ent¬
schlüsse der Seele hervorruft. Ein Dichter wie dieser ist der Gefahr, stellenweise
platt und langweilig zu werden, nie ausgesetzt; der anderen hingegen, welche
mit der Darstellung ganzer Lebensläufe verbunden ist: einer gewissen Ungleich¬
heit des Tones und der Hereinnahme prosaisch nüchterner Momente in die
poetische Wiederspiegelung des Lebens, entrinnt auch er nicht ganz. Indeß läßt
sich, so weit es sich nicht um ganz vereinzelte Reflexionen und Meinungsäuße¬
rungen, um gewisse geradezu störende Episoden handelt, die den Verhältnissen
der Schweiz entstammen und mit dichterische» Aufgaben wenigstens da nichts
zu thun haben, wo sie stehen (wir erinnern hier nur an die carrikirende Cha¬
rakteristik des schönselig rationalistischen Theologen im „Verlorenen Lachen"),
hervorheben, daß auch unter zwei ästhetischen Gefahren lieber die kleinere gewühlt
werden muß. Nicht immer spiegelt sich das Verhältniß eines Menschen zur
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