Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.Augen. In dieser Novelle hatte Keller alle Kraft, aber anch alle Zartheit nud Nur einmal noch hat Keller in den "Leuten von Seldwyla" die warme Augen. In dieser Novelle hatte Keller alle Kraft, aber anch alle Zartheit nud Nur einmal noch hat Keller in den „Leuten von Seldwyla" die warme <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0015" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147662"/> <p xml:id="ID_37" prev="#ID_36"> Augen. In dieser Novelle hatte Keller alle Kraft, aber anch alle Zartheit nud<lb/> feine Innigkeit seines Talents entfaltet. Der Stoff, der die nachtwandlerische<lb/> Sicherheit eines Dichters erforderte, welcher hart am Rande der letzten Lebens¬<lb/> tiefen mit festem Schritt seinen Weg verfolgt, ist so rein in Poesie aufgegangen,<lb/> die Novelle bringt in ihrer Entwicklung bis zur tragischen Katastrophe eine solche<lb/> Reihe von Enthüllungen süßer und tiefschmerzlicher Art und ist dabei von einer<lb/> solchen Wärme und Unmittelbarkeit, daß sie allerdings ihres Gleichen sucht.<lb/> Indem der Dichter unbeirrt auf die Darstellung einer starken und reinen Leiden¬<lb/> schaft losgeht, die, wie eine Blume zwischen Schutt, unter den armseligsten, ver¬<lb/> kommensten Lebensverhältnissen emporgewachsen ist und deren jugendliche Träger<lb/> lieber den Tod suchen, als sich vom Elend und von der Verkümmerung des Lebens<lb/> auseinanderreißen lassen wollen, erfaßt er im Vorüberschreiten noch eine Fülle<lb/> anderen Lebens. Die wundersamen Situationen, in denen sich die Liebe von<lb/> Vrenchen und Sau aus kindlichem Spiel entfaltet, sich unter dem Leid und den<lb/> häßlichen Eindrücken armseligster Existenz erhält und vertieft, die rasche Folge<lb/> wechselnder, bunter Welteindrücke, die ihnen der eine Tag bringt, der ihr Schicksal<lb/> entscheidet — alles steht in zauberhaften Licht, mit höchster Deutlichkeit und<lb/> doch von jenem wundersamen Schimmer umhaucht vor unseren Augen, der von<lb/> der Darstellung einer edlen, weltvergessenen Leidenschaft ausstrahlt. Durch die<lb/> Blätter von „Romeo und Julia auf dem Dorfe" zittert der Sonnenstrahl und<lb/> weht die Luft des einen Sommertages, der den Liebenden gegönnt ist, man<lb/> meint ihren heißen Athem zu spüren und das Wehen der schwülen Sommernacht,<lb/> die sie bestrickt; und doch ist das Ganze von unsagbarer Reinheit und seltenem<lb/> künstlerischen Adel. Wohl endet die Erzählung mit einem schrillen Zerspringen<lb/> der Saite, die so stark und voll getönt, aber der Dichter zeigt sich darin als<lb/> echter Tragiker, daß er den leidenschaftlichen Irrthum und die ans dem Leid<lb/> geborene wilde Glückssehnsucht des jungen Paares, die keine Geduld kennt, zu<lb/> einer Nothwendigkeit erhebt, welcher die Liebenden nicht entrinnen können.</p><lb/> <p xml:id="ID_38"> Nur einmal noch hat Keller in den „Leuten von Seldwyla" die warme<lb/> leuchtende Darstellung des Lebens und seiner seligsten Momente mit der Schil¬<lb/> derung dunkelster Seiten des Daseins und herber Conflicte verbunden, in der<lb/> Meisternovelle „Dietegen", deren erste, groteske, grauenhafte Voraussetzungen bald<lb/> untertauchen in dem Reichthum schöner Züge und einer prächtigen Entwicklung,<lb/> aus der sich schließlich die Liebe Dietegens und Küngolts über Noth und Tod<lb/> triumphirend erhebt. Scenen wie jene, wo der gerettete Knabe Dietegen neben<lb/> seiner kindlichen Retterin ruht, und jene letzte, wo der durch alle Lebenswetter<lb/> gehärtete Mann die vom Blutgerüst gerettete Liebste auf seinen Armen davon¬<lb/> trägt, gelingen in solcher Knappheit und Kürze, in so nachhaltiger Schlichtheit<lb/> und Stärke des Ausdrucks nur dem echten Dichter.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0015]
Augen. In dieser Novelle hatte Keller alle Kraft, aber anch alle Zartheit nud
feine Innigkeit seines Talents entfaltet. Der Stoff, der die nachtwandlerische
Sicherheit eines Dichters erforderte, welcher hart am Rande der letzten Lebens¬
tiefen mit festem Schritt seinen Weg verfolgt, ist so rein in Poesie aufgegangen,
die Novelle bringt in ihrer Entwicklung bis zur tragischen Katastrophe eine solche
Reihe von Enthüllungen süßer und tiefschmerzlicher Art und ist dabei von einer
solchen Wärme und Unmittelbarkeit, daß sie allerdings ihres Gleichen sucht.
Indem der Dichter unbeirrt auf die Darstellung einer starken und reinen Leiden¬
schaft losgeht, die, wie eine Blume zwischen Schutt, unter den armseligsten, ver¬
kommensten Lebensverhältnissen emporgewachsen ist und deren jugendliche Träger
lieber den Tod suchen, als sich vom Elend und von der Verkümmerung des Lebens
auseinanderreißen lassen wollen, erfaßt er im Vorüberschreiten noch eine Fülle
anderen Lebens. Die wundersamen Situationen, in denen sich die Liebe von
Vrenchen und Sau aus kindlichem Spiel entfaltet, sich unter dem Leid und den
häßlichen Eindrücken armseligster Existenz erhält und vertieft, die rasche Folge
wechselnder, bunter Welteindrücke, die ihnen der eine Tag bringt, der ihr Schicksal
entscheidet — alles steht in zauberhaften Licht, mit höchster Deutlichkeit und
doch von jenem wundersamen Schimmer umhaucht vor unseren Augen, der von
der Darstellung einer edlen, weltvergessenen Leidenschaft ausstrahlt. Durch die
Blätter von „Romeo und Julia auf dem Dorfe" zittert der Sonnenstrahl und
weht die Luft des einen Sommertages, der den Liebenden gegönnt ist, man
meint ihren heißen Athem zu spüren und das Wehen der schwülen Sommernacht,
die sie bestrickt; und doch ist das Ganze von unsagbarer Reinheit und seltenem
künstlerischen Adel. Wohl endet die Erzählung mit einem schrillen Zerspringen
der Saite, die so stark und voll getönt, aber der Dichter zeigt sich darin als
echter Tragiker, daß er den leidenschaftlichen Irrthum und die ans dem Leid
geborene wilde Glückssehnsucht des jungen Paares, die keine Geduld kennt, zu
einer Nothwendigkeit erhebt, welcher die Liebenden nicht entrinnen können.
Nur einmal noch hat Keller in den „Leuten von Seldwyla" die warme
leuchtende Darstellung des Lebens und seiner seligsten Momente mit der Schil¬
derung dunkelster Seiten des Daseins und herber Conflicte verbunden, in der
Meisternovelle „Dietegen", deren erste, groteske, grauenhafte Voraussetzungen bald
untertauchen in dem Reichthum schöner Züge und einer prächtigen Entwicklung,
aus der sich schließlich die Liebe Dietegens und Küngolts über Noth und Tod
triumphirend erhebt. Scenen wie jene, wo der gerettete Knabe Dietegen neben
seiner kindlichen Retterin ruht, und jene letzte, wo der durch alle Lebenswetter
gehärtete Mann die vom Blutgerüst gerettete Liebste auf seinen Armen davon¬
trägt, gelingen in solcher Knappheit und Kürze, in so nachhaltiger Schlichtheit
und Stärke des Ausdrucks nur dem echten Dichter.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |