Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.Welt in einer so wunderbar gedrängten Episode wie die Leidens- und Liebes¬ Durch Und durch originell wie die "Leute von Seldwyla" in ihrer ganzen Welt in einer so wunderbar gedrängten Episode wie die Leidens- und Liebes¬ Durch Und durch originell wie die „Leute von Seldwyla" in ihrer ganzen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0017" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147664"/> <p xml:id="ID_40" prev="#ID_39"> Welt in einer so wunderbar gedrängten Episode wie die Leidens- und Liebes¬<lb/> geschichte des trefflichen Strapinsky in „Kleider machen Leute", nicht immer<lb/> gehen alle Momente eines ganzen Lebens so rein in Poesie, in sinnliche An¬<lb/> schaulichkeit und Wärme auf, wie in der Meisternovelle „Romeo und Julia auf<lb/> dem Dorfe". Und wenn nur die Wahl bleibt zwischen einer gewissen Ungleich¬<lb/> heit des poetischen Vortrags oder der gewaltsam erkünstelten Einrenkung aus¬<lb/> einanderliegender Begebenheiten und langsam entwickelter Zustände in eine<lb/> gleichsam erzwungene dramatische Situation, so darf der Dichter die erstere mit<lb/> allem Recht vorziehen. Hängt doch andererseits das humoristische Behagen, die<lb/> fröhliche, schalkhafte Wiedergabe gewisser Lebensbeobachtungen, ja die Aussprache<lb/> der inneren Tüchtigkeit unseres Poeten, zu einem Theile wenigstens, mit dem<lb/> gerügten Referirton zusammen. Dem Humoristen dürfen die Schranken hier<lb/> nicht eng gezogen werden; in „Regel Amrain", in den „Drei gerechten Kamm¬<lb/> machern" und im „Schmied seines Glücks" beruht ein guter Theil der besten<lb/> Wirkung auf dem launigen Mitsprechen des Darstellers, auf den charakterisiren-<lb/> den Zügen, die nebenher erzählt werden und die, voll in Scene gesetzt, die<lb/> Novellen unnöthig verbreitern würden. Die Objectivität des erzählenden Dich¬<lb/> ters kann hochgehalten und doch der genialen Natur ihr Recht gewahrt bleiben.<lb/> Und Keller ist so sehr, so ganz Dichter, daß er nie Gefahr, läuft die Reflexion<lb/> und den geistreichen Einfall nach deutscher Unsitte in den Vordergrund zu<lb/> schieben und mit dem, was allenfalls zur schärferen Beleuchtung des poetischen<lb/> Bildes dienen kann, auch noch einige Vorurtheile in den Köpfen der verehrlichen<lb/> Leser ausheilen zu wollen. Drängt sich gelegentlich und zufällig ein außer¬<lb/> poetisches Moment in seine Darstellung hinein, so hat er doch nie eine unkünst¬<lb/> lerische, außerpoetische Absicht.</p><lb/> <p xml:id="ID_41" next="#ID_42"> Durch Und durch originell wie die „Leute von Seldwyla" in ihrer ganzen<lb/> Anlage — nicht am wenigsten in der dem Novelleneyklns zu Grunde liegenden<lb/> Doppelcharakteristik der lustig wunderlichen Stadt Seldwyla —, in ihrer man¬<lb/> nigfaltigen Erfindung, in dem Reichthum ihrer scharfgezeichneten Gestalten sind,<lb/> fehlt ihnen natürlich anch ein durchaus eigenthümliches Gepräge der Sprache<lb/> nicht. Gottfried Keller erweist sich auch darin als Dichter von bleibendem<lb/> Werthe, daß ein sprachschöpferisches Element in ihm lebendig und treibend ist.<lb/> Und zwar ist das Verhältniß seiner kräftigen, ausdrucksreichen, fast jede zu<lb/> Grunde liegende poetische Vorstellung und eigenthümliche Empfindung glücklich<lb/> deckenden Sprache zu den verschiedenen sprachlichen Richtungen in unserer<lb/> neuesten Literatur ein höchst beachtenswerthes. Keller schließt sich den großen<lb/> poetischen Mustern insoweit an, als er auf höchste Klarheit, Reinheit und'sinn¬<lb/> liche Bestimmtheit des Ausdrucks, auf Plastik des Baus, auf Fluß und Wohl¬<lb/> laut des Vortrags Gewicht legt. Dagegen schreckt er nicht davor zurück, bezeich-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0017]
Welt in einer so wunderbar gedrängten Episode wie die Leidens- und Liebes¬
geschichte des trefflichen Strapinsky in „Kleider machen Leute", nicht immer
gehen alle Momente eines ganzen Lebens so rein in Poesie, in sinnliche An¬
schaulichkeit und Wärme auf, wie in der Meisternovelle „Romeo und Julia auf
dem Dorfe". Und wenn nur die Wahl bleibt zwischen einer gewissen Ungleich¬
heit des poetischen Vortrags oder der gewaltsam erkünstelten Einrenkung aus¬
einanderliegender Begebenheiten und langsam entwickelter Zustände in eine
gleichsam erzwungene dramatische Situation, so darf der Dichter die erstere mit
allem Recht vorziehen. Hängt doch andererseits das humoristische Behagen, die
fröhliche, schalkhafte Wiedergabe gewisser Lebensbeobachtungen, ja die Aussprache
der inneren Tüchtigkeit unseres Poeten, zu einem Theile wenigstens, mit dem
gerügten Referirton zusammen. Dem Humoristen dürfen die Schranken hier
nicht eng gezogen werden; in „Regel Amrain", in den „Drei gerechten Kamm¬
machern" und im „Schmied seines Glücks" beruht ein guter Theil der besten
Wirkung auf dem launigen Mitsprechen des Darstellers, auf den charakterisiren-
den Zügen, die nebenher erzählt werden und die, voll in Scene gesetzt, die
Novellen unnöthig verbreitern würden. Die Objectivität des erzählenden Dich¬
ters kann hochgehalten und doch der genialen Natur ihr Recht gewahrt bleiben.
Und Keller ist so sehr, so ganz Dichter, daß er nie Gefahr, läuft die Reflexion
und den geistreichen Einfall nach deutscher Unsitte in den Vordergrund zu
schieben und mit dem, was allenfalls zur schärferen Beleuchtung des poetischen
Bildes dienen kann, auch noch einige Vorurtheile in den Köpfen der verehrlichen
Leser ausheilen zu wollen. Drängt sich gelegentlich und zufällig ein außer¬
poetisches Moment in seine Darstellung hinein, so hat er doch nie eine unkünst¬
lerische, außerpoetische Absicht.
Durch Und durch originell wie die „Leute von Seldwyla" in ihrer ganzen
Anlage — nicht am wenigsten in der dem Novelleneyklns zu Grunde liegenden
Doppelcharakteristik der lustig wunderlichen Stadt Seldwyla —, in ihrer man¬
nigfaltigen Erfindung, in dem Reichthum ihrer scharfgezeichneten Gestalten sind,
fehlt ihnen natürlich anch ein durchaus eigenthümliches Gepräge der Sprache
nicht. Gottfried Keller erweist sich auch darin als Dichter von bleibendem
Werthe, daß ein sprachschöpferisches Element in ihm lebendig und treibend ist.
Und zwar ist das Verhältniß seiner kräftigen, ausdrucksreichen, fast jede zu
Grunde liegende poetische Vorstellung und eigenthümliche Empfindung glücklich
deckenden Sprache zu den verschiedenen sprachlichen Richtungen in unserer
neuesten Literatur ein höchst beachtenswerthes. Keller schließt sich den großen
poetischen Mustern insoweit an, als er auf höchste Klarheit, Reinheit und'sinn¬
liche Bestimmtheit des Ausdrucks, auf Plastik des Baus, auf Fluß und Wohl¬
laut des Vortrags Gewicht legt. Dagegen schreckt er nicht davor zurück, bezeich-
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |