Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.mit einer Gruppe inzwischen entstandener neuer Novellen bereichert wurde, und Wie es immer zu geschehen Pflegt, fiel am Ende das leuchtendste, farbigste mit einer Gruppe inzwischen entstandener neuer Novellen bereichert wurde, und Wie es immer zu geschehen Pflegt, fiel am Ende das leuchtendste, farbigste <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0014" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147661"/> <p xml:id="ID_35" prev="#ID_34"> mit einer Gruppe inzwischen entstandener neuer Novellen bereichert wurde, und<lb/> die insofern als das Hauptwerk des Dichters zu betrachten ist, als sich in diesen<lb/> Erzählungen alle seine Eigenthümlichkeiten voll entfalten, alle besonderen Lichter<lb/> und Zauber seines Talents spielen. Man darf wohl sagen, daß mehr als eine<lb/> dieser Novellen dauern und immer neues Entzücken gewähren wird, so lange<lb/> die deutsche Sprache von heute nicht selbst eine tiefgreifende Umwandlung er¬<lb/> fährt. Kellers Phcmtafiereichthum und Humor, seine Gemüthstiefe und scharfe<lb/> Menschenkenntniß, der Reichthum seiner Stimmungen wie die reizvolle Wand¬<lb/> lungsfähigkeit seiner Darstellungskraft, die für die verschiedenen Stoffe den ver¬<lb/> schiedensten Ton findet, seine ganze scharf ausgeprägte Eigenart concentriren sich<lb/> in den „unsterblichen Seldwylern", wie sie Heyse in einem reizenden Sonett<lb/> mit Recht genannt hat. In der gesammten deutschen Literatur existirt kaum ein<lb/> zweites Buch, welches so unbedingt aus den Voraussetzungen und Eindrücken<lb/> eines begrenzten ureigenen Heimatbodens herausgewachsen wäre und sich doch<lb/> so hoch in die Region jener Poesie erhöbe, die man sich meist vom Localboden<lb/> gelöst vorzustellen liebt. Wer den stolzgewachsenen Baum hoch ins Blau ragen<lb/> sieht und den frischen, würzigen Duft einathmet, den die Luft von ihm daher-<lb/> trägt, der denkt wohl kaum mehr an die Verästlnng der Wurzeln tief im Wald¬<lb/> boden. Und doch hat es eine Zeit gegeben, in welchem die wunderlich laufen¬<lb/> den, tief hinabreichenden, knorrigen Wurzeln des Baums den Blick vieler so<lb/> an den Boden bannten, daß sie nicht zu sehen vermochten, wie schlank der Stamm<lb/> emporsprang, wie frei er sich wiegte. Seltsam, räthselhaft ist es gewiß, aber<lb/> wahr bleibt es nicht minder, daß ein Theil der Leser und Urtheiler sich von<lb/> dem Prachtbuche „Die Leute von Seldwyla" spröde und scheu abwandte. Sie<lb/> vermochten nur den Hintergrund der Schweiz,- und zwar der radicalen, Jähren¬<lb/> den, zu fremdartigen Lebensverhältnissen gediehenen Schweiz, nur die localen<lb/> Elemente, auch eine gelegentliche Härte und einen übermüthigen Scherz wider<lb/> das hohe Philistertum aufzufassen. Der Ueberreichthum der Charakteristik ^im<lb/> engsten Rahmen eines lustigen, halbverkommenen Schweizerstädtchens, die große<lb/> Zahl lebendiger, ernster und komischer Menschengestalten, deren Züge der<lb/> Dichter getreulich erlauscht hat und in deren Seelen er uns bis in die letzten<lb/> Tiefen, in die geheimsten Falten hinabschauen läßt, entging ihnen ebenso wie<lb/> die Fülle bewegter, fesselnder Handlung und genialer Erfindung. Nicht leicht konnte<lb/> ein stärkeres Mißverhältniß zwischen dem Entzücken der Sehenden und Empfäng¬<lb/> lichen und der Gleichgültigkeit des größeren Publikums obwalten. Die Vorzüge<lb/> der Kellerschen Novellen waren eben solche, daß sie nur empfunden und genossen,<lb/> nicht demonstrirt werden konnten.</p><lb/> <p xml:id="ID_36" next="#ID_37"> Wie es immer zu geschehen Pflegt, fiel am Ende das leuchtendste, farbigste<lb/> Juwel, die Novelle „Romeo und Julia auf dem Dorfe", zuerst in die geschlossenen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0014]
mit einer Gruppe inzwischen entstandener neuer Novellen bereichert wurde, und
die insofern als das Hauptwerk des Dichters zu betrachten ist, als sich in diesen
Erzählungen alle seine Eigenthümlichkeiten voll entfalten, alle besonderen Lichter
und Zauber seines Talents spielen. Man darf wohl sagen, daß mehr als eine
dieser Novellen dauern und immer neues Entzücken gewähren wird, so lange
die deutsche Sprache von heute nicht selbst eine tiefgreifende Umwandlung er¬
fährt. Kellers Phcmtafiereichthum und Humor, seine Gemüthstiefe und scharfe
Menschenkenntniß, der Reichthum seiner Stimmungen wie die reizvolle Wand¬
lungsfähigkeit seiner Darstellungskraft, die für die verschiedenen Stoffe den ver¬
schiedensten Ton findet, seine ganze scharf ausgeprägte Eigenart concentriren sich
in den „unsterblichen Seldwylern", wie sie Heyse in einem reizenden Sonett
mit Recht genannt hat. In der gesammten deutschen Literatur existirt kaum ein
zweites Buch, welches so unbedingt aus den Voraussetzungen und Eindrücken
eines begrenzten ureigenen Heimatbodens herausgewachsen wäre und sich doch
so hoch in die Region jener Poesie erhöbe, die man sich meist vom Localboden
gelöst vorzustellen liebt. Wer den stolzgewachsenen Baum hoch ins Blau ragen
sieht und den frischen, würzigen Duft einathmet, den die Luft von ihm daher-
trägt, der denkt wohl kaum mehr an die Verästlnng der Wurzeln tief im Wald¬
boden. Und doch hat es eine Zeit gegeben, in welchem die wunderlich laufen¬
den, tief hinabreichenden, knorrigen Wurzeln des Baums den Blick vieler so
an den Boden bannten, daß sie nicht zu sehen vermochten, wie schlank der Stamm
emporsprang, wie frei er sich wiegte. Seltsam, räthselhaft ist es gewiß, aber
wahr bleibt es nicht minder, daß ein Theil der Leser und Urtheiler sich von
dem Prachtbuche „Die Leute von Seldwyla" spröde und scheu abwandte. Sie
vermochten nur den Hintergrund der Schweiz,- und zwar der radicalen, Jähren¬
den, zu fremdartigen Lebensverhältnissen gediehenen Schweiz, nur die localen
Elemente, auch eine gelegentliche Härte und einen übermüthigen Scherz wider
das hohe Philistertum aufzufassen. Der Ueberreichthum der Charakteristik ^im
engsten Rahmen eines lustigen, halbverkommenen Schweizerstädtchens, die große
Zahl lebendiger, ernster und komischer Menschengestalten, deren Züge der
Dichter getreulich erlauscht hat und in deren Seelen er uns bis in die letzten
Tiefen, in die geheimsten Falten hinabschauen läßt, entging ihnen ebenso wie
die Fülle bewegter, fesselnder Handlung und genialer Erfindung. Nicht leicht konnte
ein stärkeres Mißverhältniß zwischen dem Entzücken der Sehenden und Empfäng¬
lichen und der Gleichgültigkeit des größeren Publikums obwalten. Die Vorzüge
der Kellerschen Novellen waren eben solche, daß sie nur empfunden und genossen,
nicht demonstrirt werden konnten.
Wie es immer zu geschehen Pflegt, fiel am Ende das leuchtendste, farbigste
Juwel, die Novelle „Romeo und Julia auf dem Dorfe", zuerst in die geschlossenen
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