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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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gewohnten Miene des Tiefeingeweihten uns dies versicherte. Dagegen hatte
das Blatt in folgender Betrachtung Recht. Gerade demokratische Republiken
verfallen leicht der Herrschaft eines Mannes. Dieser leitende Kopf braucht
nicht immer der Präsident zu sein. Oft ist es einer der Minister, der als Seele
des Cabineis allein maßgebenden Einfluß gewinnt und, sobald er sich sicher
fühlt, alle, die ihm als Nebenbuhler erscheinen, beseitigt und die verschiedenen
obersten Posten der Verwaltung, ja selbst den Präsidentenstuhl mit willens¬
schwachen Persönlichkeiten besetzt, so daß er eigentlich allein anordnet und ge¬
bietet. Zuweilen übt diese stille, aber allenthalben fühlbare Dictatur auch ein
Mitglied der Kammern eine Zeit lang, wenn es, mit Talent vorsichtige Genüg¬
samkeit verbindend, seine Gelegenheiten abzuwarten und energisch zu benutzen
versteht. Ein Beispiel ist Gambetta. Nachdem er sich in Folge der Anklage, in
welcher Thiers ihn als ton farioux hingestellt, eine Zeit lang ruhig verhalten
hatte, gewann unter dein sanften und nachgiebigen Grevy das Bewußtsein in
ihm Raum und Macht, daß er durch geschicktes und entschiedenes Auftrete" über
das Staatsoberhaupt und dessen Rathgeber zu verfügen im Stande sein nud
so der eigentliche Regent Frankreichs werden könne. Hierin täujchte er sich auch
uicht, als er darauf hin handelte. Er ist, indem er sich vorsichtig hinter den
Coulissen hielt und so der Verantwortlichkeit für das, was geschah, entging, da¬
hin gelangt, daß er bis zu einem gewissen Grade Herr der Lage wurde und
blieb und immer den Ereignissen die Wendung geben konnte, die seinen Ab¬
sichten entsprach. Sein Ziel ist die oberste Gewalt, aber er versteht, wie be¬
merkt, zu warten, und er weiß, daß er sich, wenn er jenes Ziel erreichen will,
nicht durch Uebernahme eines mit Verantwortlichkeit verbundenen Postens ab¬
nutzen darf, wohl aber andere Capaeitäten in die Lage bringen muß, sich vor
der öffentlichen Meinung unmöglich zu machen. Ob der Präsident der Repu¬
blik in einer Cabinetskrisis nach ihm schickt oder nicht, der kluge Kammerpräsi¬
dent wird seinem Ruse, an die Spitze der Verwaltung des Staates zu treten,
nicht folgen, geschweige denn sich von selbst dazu erbieten, denn er ist eben über¬
zeugt, daß ihm dies den Weg zur obersten Gewalt verschließen würde. Grevys
Natur und Charakter paßten ihm zu diesem Plane, und die Premierschafteu erst
Waddingtvns, baun Freycinets waren ihm dabei eine Zeit lang auch nicht im
Wege. Es genügte ihm, daß diese scheinbar von ihm unabhängigen Regenten
in Wirklichkeit ohne Uebereinstimmung mit seinem Willen nichts von Bedeutung
unternehmen konnten. Beanspruchten sie in einer wichtigen Frage das Recht,
selbständig zu handeln, so waren sie verloren. Seine Rechnung faßt sich in
den Gedanken zusammen: Allmählich wird Frankreich alle Politiker von In¬
telligenz und Ruf verbraucht haben und zu dein Glauben gelangt sein, daß es
keinen anderen Mann der Art mehr giebt, der es mit Erfolg regieren kann als


gewohnten Miene des Tiefeingeweihten uns dies versicherte. Dagegen hatte
das Blatt in folgender Betrachtung Recht. Gerade demokratische Republiken
verfallen leicht der Herrschaft eines Mannes. Dieser leitende Kopf braucht
nicht immer der Präsident zu sein. Oft ist es einer der Minister, der als Seele
des Cabineis allein maßgebenden Einfluß gewinnt und, sobald er sich sicher
fühlt, alle, die ihm als Nebenbuhler erscheinen, beseitigt und die verschiedenen
obersten Posten der Verwaltung, ja selbst den Präsidentenstuhl mit willens¬
schwachen Persönlichkeiten besetzt, so daß er eigentlich allein anordnet und ge¬
bietet. Zuweilen übt diese stille, aber allenthalben fühlbare Dictatur auch ein
Mitglied der Kammern eine Zeit lang, wenn es, mit Talent vorsichtige Genüg¬
samkeit verbindend, seine Gelegenheiten abzuwarten und energisch zu benutzen
versteht. Ein Beispiel ist Gambetta. Nachdem er sich in Folge der Anklage, in
welcher Thiers ihn als ton farioux hingestellt, eine Zeit lang ruhig verhalten
hatte, gewann unter dein sanften und nachgiebigen Grevy das Bewußtsein in
ihm Raum und Macht, daß er durch geschicktes und entschiedenes Auftrete» über
das Staatsoberhaupt und dessen Rathgeber zu verfügen im Stande sein nud
so der eigentliche Regent Frankreichs werden könne. Hierin täujchte er sich auch
uicht, als er darauf hin handelte. Er ist, indem er sich vorsichtig hinter den
Coulissen hielt und so der Verantwortlichkeit für das, was geschah, entging, da¬
hin gelangt, daß er bis zu einem gewissen Grade Herr der Lage wurde und
blieb und immer den Ereignissen die Wendung geben konnte, die seinen Ab¬
sichten entsprach. Sein Ziel ist die oberste Gewalt, aber er versteht, wie be¬
merkt, zu warten, und er weiß, daß er sich, wenn er jenes Ziel erreichen will,
nicht durch Uebernahme eines mit Verantwortlichkeit verbundenen Postens ab¬
nutzen darf, wohl aber andere Capaeitäten in die Lage bringen muß, sich vor
der öffentlichen Meinung unmöglich zu machen. Ob der Präsident der Repu¬
blik in einer Cabinetskrisis nach ihm schickt oder nicht, der kluge Kammerpräsi¬
dent wird seinem Ruse, an die Spitze der Verwaltung des Staates zu treten,
nicht folgen, geschweige denn sich von selbst dazu erbieten, denn er ist eben über¬
zeugt, daß ihm dies den Weg zur obersten Gewalt verschließen würde. Grevys
Natur und Charakter paßten ihm zu diesem Plane, und die Premierschafteu erst
Waddingtvns, baun Freycinets waren ihm dabei eine Zeit lang auch nicht im
Wege. Es genügte ihm, daß diese scheinbar von ihm unabhängigen Regenten
in Wirklichkeit ohne Uebereinstimmung mit seinem Willen nichts von Bedeutung
unternehmen konnten. Beanspruchten sie in einer wichtigen Frage das Recht,
selbständig zu handeln, so waren sie verloren. Seine Rechnung faßt sich in
den Gedanken zusammen: Allmählich wird Frankreich alle Politiker von In¬
telligenz und Ruf verbraucht haben und zu dein Glauben gelangt sein, daß es
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/130>, abgerufen am 28.12.2024.