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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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"zum Vorspielen" lernt der Aermste nichts kennen. Von einer Entwicklung des
musikalischen Geschmacks kann unter solchen Verhältnissen kaum die Rede sein.

Allein wenn die dilettantische Musiklehrerin nur passiv der Entwicklung
eiues schlechten Geschmackes zusieht, so versündigt sich dagegen der industrielle
Musiklehrer aktiv durch systematische Pflege eines untergeordneten Kuustgenres.

Die Thatsache, daß alljährlich ein ungeheures Quantum von sogenannter
gewöhnlicher Salomnnsik und von Liedern einer Gattung, die der Franzose Ho-
mimcss nennt und für die wir leider keine unterscheidende Bezeichnung haben, nicht
mir gedruckt, soudern verbraucht wird, steht ebenso fest wie die andere, daß jeder,
der mit dem Wesen unserer Classiker bekannt geworden ist, jene Erzeugnisse dilet¬
tantischer Gefühlsduselei oder einer höchst verwerflichen, eines Künstlers un¬
würdigen Speculation verachtet. Der Schluß ist einfach genug der, daß hier
eine schwere Schuld auf die Lehrer gewälzt werden muß: Die Musik-
lehrer i in Bunde mit de n M usikalienh audi e rü s ind d i e Er nähre r
und Förderer, ja sogar vielleicht die Erzeuger des schlechten Ge¬
schmackes der großen Menge. Es versteht sich' von selbst, daß diese Be-
hauptung nicht dem unterrichtertheilenden ernsthaften Künstler und nicht Verlegern
wie Härtel oder Peters gilt. Sie gilt hauptächlich den manchmal geradezu
eine Art Piratenwesen treibenden Lehrern und Händlern kleinerer Städte.*) Welches
Interesse hat aber der Musikalienhändler wie der Lehrer an dem Verderb des
Geschmacks der Menge? Findet er nicht seine Rechnung ebenso gut, wenn eine
edle Kunstrichtung gepflegt und das Interesse für die herrlichen Schöpfungen
eines Beethoven, Mozart, Hahdn, Bach oder eines Weber, Schubert, lSchumcmu,
Brahins u. a. geweckt wird? Nein, er findet sie nicht. Der Gründe dafür
sind eine ganze Reihe.

Fragen wir zunächst nach den Schöpfern jener leichten Dutzendwaare der
Judustriekuust, so stellt sich heraus, daß ein sehr erheblicher Bruchtheil derselbe"
gerade von Musiklehrern herrührt, die, wenn sie noch soviel Anstand besitzen, nicht
ihre eigne Waare zu vertreiben, doch in einer Art stillschweigendem EinVerständniß
ihre Interessen fördern, wenn sie überhaupt dies Genre eultiviereu. Natürlich
muß thuen daran gelegen sein, daß Musik dieser Art gespielt werde, wenn sie ihre
Producte im Preise erhalten wollen. Der Lehrer nun, der schlechte Musik schreibt,
weil er keine bessere schreibe" kaun, ist zwar nicht zu loben, verdient aber doch
wenigstens Mitleid. Leider giebt es aber nicht wenige -- nein, sehr viele, die
das Zeug haben, solides Mittelgut zu schaffen und die durch ihre Fvriuen-
keuntuiß und technische Gewandheit in den Stand gesetzt sind in großartigem
Maßstabe die Production jener Eintagsmusik zu betreiben. Diese sind wirkliche
musikalische Freibeuter. Es liegt außerhalb des Rahmens eines Schattenbildes
hellbelenchtete Gestalten einzuführen -- wir könnten sonst hier Namen von
gutem Klange nennen! Es ist kaum glaublich, daß Leute, die eines fließenden
polyphonen Satzes mächtig sind, es über sich gewinnen, einerlei ob nnter eigenem
Namen oder psendvnym, einen Klingklang zu Papier zu bringen, den jeder
bessere Dilettant achselzuckend zur Seite schiebt. Hier kommen nun die Verleger
ins Spiel -- die Waare wird verlangt, sie muß geschafft werden. Ein nam¬
hafter Künstler, der neben Kunstwerken ersten Ranges ganz ordinäre Salomnnsik
veröffentlicht hat, entschuldigt sich dann damit, daß ihm die Verleger seine guten



*) Es fehlt Mi beiden mich nicht in grüßen Städten. Ein Mensch lion besseren! musikalischen
Geschmack erschrickt oft fvriulich über die Musikalieutitel, die er an der Ladcntafcl eines
Musikalienhändlers neben sich andere Leute verlangen hört. Wer hat ihnen d Schd
enun
Die Red. empfohlen? Der Klavierlehrer.

„zum Vorspielen" lernt der Aermste nichts kennen. Von einer Entwicklung des
musikalischen Geschmacks kann unter solchen Verhältnissen kaum die Rede sein.

Allein wenn die dilettantische Musiklehrerin nur passiv der Entwicklung
eiues schlechten Geschmackes zusieht, so versündigt sich dagegen der industrielle
Musiklehrer aktiv durch systematische Pflege eines untergeordneten Kuustgenres.

Die Thatsache, daß alljährlich ein ungeheures Quantum von sogenannter
gewöhnlicher Salomnnsik und von Liedern einer Gattung, die der Franzose Ho-
mimcss nennt und für die wir leider keine unterscheidende Bezeichnung haben, nicht
mir gedruckt, soudern verbraucht wird, steht ebenso fest wie die andere, daß jeder,
der mit dem Wesen unserer Classiker bekannt geworden ist, jene Erzeugnisse dilet¬
tantischer Gefühlsduselei oder einer höchst verwerflichen, eines Künstlers un¬
würdigen Speculation verachtet. Der Schluß ist einfach genug der, daß hier
eine schwere Schuld auf die Lehrer gewälzt werden muß: Die Musik-
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und Förderer, ja sogar vielleicht die Erzeuger des schlechten Ge¬
schmackes der großen Menge. Es versteht sich' von selbst, daß diese Be-
hauptung nicht dem unterrichtertheilenden ernsthaften Künstler und nicht Verlegern
wie Härtel oder Peters gilt. Sie gilt hauptächlich den manchmal geradezu
eine Art Piratenwesen treibenden Lehrern und Händlern kleinerer Städte.*) Welches
Interesse hat aber der Musikalienhändler wie der Lehrer an dem Verderb des
Geschmacks der Menge? Findet er nicht seine Rechnung ebenso gut, wenn eine
edle Kunstrichtung gepflegt und das Interesse für die herrlichen Schöpfungen
eines Beethoven, Mozart, Hahdn, Bach oder eines Weber, Schubert, lSchumcmu,
Brahins u. a. geweckt wird? Nein, er findet sie nicht. Der Gründe dafür
sind eine ganze Reihe.

Fragen wir zunächst nach den Schöpfern jener leichten Dutzendwaare der
Judustriekuust, so stellt sich heraus, daß ein sehr erheblicher Bruchtheil derselbe«
gerade von Musiklehrern herrührt, die, wenn sie noch soviel Anstand besitzen, nicht
ihre eigne Waare zu vertreiben, doch in einer Art stillschweigendem EinVerständniß
ihre Interessen fördern, wenn sie überhaupt dies Genre eultiviereu. Natürlich
muß thuen daran gelegen sein, daß Musik dieser Art gespielt werde, wenn sie ihre
Producte im Preise erhalten wollen. Der Lehrer nun, der schlechte Musik schreibt,
weil er keine bessere schreibe« kaun, ist zwar nicht zu loben, verdient aber doch
wenigstens Mitleid. Leider giebt es aber nicht wenige — nein, sehr viele, die
das Zeug haben, solides Mittelgut zu schaffen und die durch ihre Fvriuen-
keuntuiß und technische Gewandheit in den Stand gesetzt sind in großartigem
Maßstabe die Production jener Eintagsmusik zu betreiben. Diese sind wirkliche
musikalische Freibeuter. Es liegt außerhalb des Rahmens eines Schattenbildes
hellbelenchtete Gestalten einzuführen — wir könnten sonst hier Namen von
gutem Klange nennen! Es ist kaum glaublich, daß Leute, die eines fließenden
polyphonen Satzes mächtig sind, es über sich gewinnen, einerlei ob nnter eigenem
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bessere Dilettant achselzuckend zur Seite schiebt. Hier kommen nun die Verleger
ins Spiel — die Waare wird verlangt, sie muß geschafft werden. Ein nam¬
hafter Künstler, der neben Kunstwerken ersten Ranges ganz ordinäre Salomnnsik
veröffentlicht hat, entschuldigt sich dann damit, daß ihm die Verleger seine guten



*) Es fehlt Mi beiden mich nicht in grüßen Städten. Ein Mensch lion besseren! musikalischen
Geschmack erschrickt oft fvriulich über die Musikalieutitel, die er an der Ladcntafcl eines
Musikalienhändlers neben sich andere Leute verlangen hört. Wer hat ihnen d Schd
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Die Red. empfohlen? Der Klavierlehrer.
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[0126] „zum Vorspielen" lernt der Aermste nichts kennen. Von einer Entwicklung des musikalischen Geschmacks kann unter solchen Verhältnissen kaum die Rede sein. Allein wenn die dilettantische Musiklehrerin nur passiv der Entwicklung eiues schlechten Geschmackes zusieht, so versündigt sich dagegen der industrielle Musiklehrer aktiv durch systematische Pflege eines untergeordneten Kuustgenres. Die Thatsache, daß alljährlich ein ungeheures Quantum von sogenannter gewöhnlicher Salomnnsik und von Liedern einer Gattung, die der Franzose Ho- mimcss nennt und für die wir leider keine unterscheidende Bezeichnung haben, nicht mir gedruckt, soudern verbraucht wird, steht ebenso fest wie die andere, daß jeder, der mit dem Wesen unserer Classiker bekannt geworden ist, jene Erzeugnisse dilet¬ tantischer Gefühlsduselei oder einer höchst verwerflichen, eines Künstlers un¬ würdigen Speculation verachtet. Der Schluß ist einfach genug der, daß hier eine schwere Schuld auf die Lehrer gewälzt werden muß: Die Musik- lehrer i in Bunde mit de n M usikalienh audi e rü s ind d i e Er nähre r und Förderer, ja sogar vielleicht die Erzeuger des schlechten Ge¬ schmackes der großen Menge. Es versteht sich' von selbst, daß diese Be- hauptung nicht dem unterrichtertheilenden ernsthaften Künstler und nicht Verlegern wie Härtel oder Peters gilt. Sie gilt hauptächlich den manchmal geradezu eine Art Piratenwesen treibenden Lehrern und Händlern kleinerer Städte.*) Welches Interesse hat aber der Musikalienhändler wie der Lehrer an dem Verderb des Geschmacks der Menge? Findet er nicht seine Rechnung ebenso gut, wenn eine edle Kunstrichtung gepflegt und das Interesse für die herrlichen Schöpfungen eines Beethoven, Mozart, Hahdn, Bach oder eines Weber, Schubert, lSchumcmu, Brahins u. a. geweckt wird? Nein, er findet sie nicht. Der Gründe dafür sind eine ganze Reihe. Fragen wir zunächst nach den Schöpfern jener leichten Dutzendwaare der Judustriekuust, so stellt sich heraus, daß ein sehr erheblicher Bruchtheil derselbe« gerade von Musiklehrern herrührt, die, wenn sie noch soviel Anstand besitzen, nicht ihre eigne Waare zu vertreiben, doch in einer Art stillschweigendem EinVerständniß ihre Interessen fördern, wenn sie überhaupt dies Genre eultiviereu. Natürlich muß thuen daran gelegen sein, daß Musik dieser Art gespielt werde, wenn sie ihre Producte im Preise erhalten wollen. Der Lehrer nun, der schlechte Musik schreibt, weil er keine bessere schreibe« kaun, ist zwar nicht zu loben, verdient aber doch wenigstens Mitleid. Leider giebt es aber nicht wenige — nein, sehr viele, die das Zeug haben, solides Mittelgut zu schaffen und die durch ihre Fvriuen- keuntuiß und technische Gewandheit in den Stand gesetzt sind in großartigem Maßstabe die Production jener Eintagsmusik zu betreiben. Diese sind wirkliche musikalische Freibeuter. Es liegt außerhalb des Rahmens eines Schattenbildes hellbelenchtete Gestalten einzuführen — wir könnten sonst hier Namen von gutem Klange nennen! Es ist kaum glaublich, daß Leute, die eines fließenden polyphonen Satzes mächtig sind, es über sich gewinnen, einerlei ob nnter eigenem Namen oder psendvnym, einen Klingklang zu Papier zu bringen, den jeder bessere Dilettant achselzuckend zur Seite schiebt. Hier kommen nun die Verleger ins Spiel — die Waare wird verlangt, sie muß geschafft werden. Ein nam¬ hafter Künstler, der neben Kunstwerken ersten Ranges ganz ordinäre Salomnnsik veröffentlicht hat, entschuldigt sich dann damit, daß ihm die Verleger seine guten *) Es fehlt Mi beiden mich nicht in grüßen Städten. Ein Mensch lion besseren! musikalischen Geschmack erschrickt oft fvriulich über die Musikalieutitel, die er an der Ladcntafcl eines Musikalienhändlers neben sich andere Leute verlangen hört. Wer hat ihnen d Schd enun Die Red. empfohlen? Der Klavierlehrer.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/126>, abgerufen am 28.12.2024.