Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

scharf geht er mit den Juristen zu Gericht. "In keiner Classe vielleicht macht
sich heute die Mittelmäßigkeit so breit wie unter den Juristen; eine Mittel¬
mäßigkeit, die mehr um sich selbst als um die Wissenschaft besorgt ist, die sich
ebenso bereit zeigt, zu schmeicheln, als sie selbst der Schmeichelei zugänglich ist,
und die danach dürstet, Aufsehen zu erregen und wohlfeile Popularität zu er¬
langen, indem sie einen schwachen, entnervenden, jedem wahren Humanitätsge¬
fühle widersprechenden Humanitarismus zur Schau trägt. Und nichts hat so
sehr wie die abstracten Theorien dieser Juristen dazu beigetragen, den politischen
Gedanken zu verflachen und die ethische und organische Idee der Freiheit, des
socialen Lebens und des Staates in der allgemeinen Anschauung herabzusetzen."

Wir halten uns für incompetent auf diese Angriffe zu antworten, als deren
namentliche Objecte Mittermayer, Bluntschli und Holtzendorff erscheinen, und
überlassen es einer kundigeren Feder, gelegentlich in dieser Sache ihr Votum ab¬
zugeben. Dagegen glauben wir uns berufen, gegen Marianos Urtheil über die
Philosophie, Theologie und poetische Literatur unserer Zeit ein Veto einzulegen.
Er erklärt: "Die Philosophie, die Theologie und die Literatur findet man in
den Büchern, welche von Kant und Lessing bis Hegel, Baur und Goethe er¬
schienen sind. Wir glauben nicht, daß die modernen Bücher und die gegen¬
wärtigen Professoren -- "xesptis exe-Mönclis -- das große Deutschland des
Gedankens und des Ideals vertreten." Ueber unsere neuere poetische Literatur
uur wenige Worte. Sie steht nicht auf der Höhe des Reichthums an Gedanken
und der Vollendung der Form, die wir an unseren Classtkern bewundern. Wir
besitzen kein Epos, das Goethes "Hermann und Dorothea" zur Seite gestellt
werden konnte; kein Drama, das mit "Iphigenie" und "Tasso" wetteifern konnte.
Aber Dichter ersten Ranges pflegen auch nicht in jedem Jahrhundert zu er¬
stehen. Die Völker sind gemeiniglich lange Zeit darauf angewiesen, vollendete
Dichtung und Kunst in Vorbildern der Vergangenheit anzuschauen. Folgt
daraus, daß unsere nachelassische poetische Literatur eine schwächliche Epigonen-
Literatur ist? Gewiß nicht, und dem entspricht anch durchaus nicht ihr Gehalt.
Wir stehen keinen Augenblick an zu behaupten, daß unsere nachelassische Lyrik
so zarte und duftige Blüthen getrieben hat, daß sie den Vergleich mit der Lyrik
unserer Classiker nicht zu scheuen hat, und daß wir eine Reihe von Romanen
aufweisen können, welche die Romane unserer Classiker in den Schatten stellen.
Ungerecht ist auch Marianos Urtheil über unsere Philosophie. Er ignorirt die
Leistungen unseres philosophischen Theismus, die Werke eines I. H. Fichte,
Ulrici, Harms, Carriere, vor allem die Philosophie eines so tiefen, originalen
und umfassenden Denkers, wie es H. Lotze ist. Alle diese Männer stehen auf
idealem, ethischem, religiösem Boden, und ihre Schriften sind hochgeschätzt und
weit verbreitet. Aber auch das Urtheil Marianos über unsere moderne Theo-


scharf geht er mit den Juristen zu Gericht. „In keiner Classe vielleicht macht
sich heute die Mittelmäßigkeit so breit wie unter den Juristen; eine Mittel¬
mäßigkeit, die mehr um sich selbst als um die Wissenschaft besorgt ist, die sich
ebenso bereit zeigt, zu schmeicheln, als sie selbst der Schmeichelei zugänglich ist,
und die danach dürstet, Aufsehen zu erregen und wohlfeile Popularität zu er¬
langen, indem sie einen schwachen, entnervenden, jedem wahren Humanitätsge¬
fühle widersprechenden Humanitarismus zur Schau trägt. Und nichts hat so
sehr wie die abstracten Theorien dieser Juristen dazu beigetragen, den politischen
Gedanken zu verflachen und die ethische und organische Idee der Freiheit, des
socialen Lebens und des Staates in der allgemeinen Anschauung herabzusetzen."

Wir halten uns für incompetent auf diese Angriffe zu antworten, als deren
namentliche Objecte Mittermayer, Bluntschli und Holtzendorff erscheinen, und
überlassen es einer kundigeren Feder, gelegentlich in dieser Sache ihr Votum ab¬
zugeben. Dagegen glauben wir uns berufen, gegen Marianos Urtheil über die
Philosophie, Theologie und poetische Literatur unserer Zeit ein Veto einzulegen.
Er erklärt: „Die Philosophie, die Theologie und die Literatur findet man in
den Büchern, welche von Kant und Lessing bis Hegel, Baur und Goethe er¬
schienen sind. Wir glauben nicht, daß die modernen Bücher und die gegen¬
wärtigen Professoren — «xesptis exe-Mönclis — das große Deutschland des
Gedankens und des Ideals vertreten." Ueber unsere neuere poetische Literatur
uur wenige Worte. Sie steht nicht auf der Höhe des Reichthums an Gedanken
und der Vollendung der Form, die wir an unseren Classtkern bewundern. Wir
besitzen kein Epos, das Goethes „Hermann und Dorothea" zur Seite gestellt
werden konnte; kein Drama, das mit „Iphigenie" und „Tasso" wetteifern konnte.
Aber Dichter ersten Ranges pflegen auch nicht in jedem Jahrhundert zu er¬
stehen. Die Völker sind gemeiniglich lange Zeit darauf angewiesen, vollendete
Dichtung und Kunst in Vorbildern der Vergangenheit anzuschauen. Folgt
daraus, daß unsere nachelassische poetische Literatur eine schwächliche Epigonen-
Literatur ist? Gewiß nicht, und dem entspricht anch durchaus nicht ihr Gehalt.
Wir stehen keinen Augenblick an zu behaupten, daß unsere nachelassische Lyrik
so zarte und duftige Blüthen getrieben hat, daß sie den Vergleich mit der Lyrik
unserer Classiker nicht zu scheuen hat, und daß wir eine Reihe von Romanen
aufweisen können, welche die Romane unserer Classiker in den Schatten stellen.
Ungerecht ist auch Marianos Urtheil über unsere Philosophie. Er ignorirt die
Leistungen unseres philosophischen Theismus, die Werke eines I. H. Fichte,
Ulrici, Harms, Carriere, vor allem die Philosophie eines so tiefen, originalen
und umfassenden Denkers, wie es H. Lotze ist. Alle diese Männer stehen auf
idealem, ethischem, religiösem Boden, und ihre Schriften sind hochgeschätzt und
weit verbreitet. Aber auch das Urtheil Marianos über unsere moderne Theo-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0527" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147621"/>
          <p xml:id="ID_1451" prev="#ID_1450"> scharf geht er mit den Juristen zu Gericht. &#x201E;In keiner Classe vielleicht macht<lb/>
sich heute die Mittelmäßigkeit so breit wie unter den Juristen; eine Mittel¬<lb/>
mäßigkeit, die mehr um sich selbst als um die Wissenschaft besorgt ist, die sich<lb/>
ebenso bereit zeigt, zu schmeicheln, als sie selbst der Schmeichelei zugänglich ist,<lb/>
und die danach dürstet, Aufsehen zu erregen und wohlfeile Popularität zu er¬<lb/>
langen, indem sie einen schwachen, entnervenden, jedem wahren Humanitätsge¬<lb/>
fühle widersprechenden Humanitarismus zur Schau trägt. Und nichts hat so<lb/>
sehr wie die abstracten Theorien dieser Juristen dazu beigetragen, den politischen<lb/>
Gedanken zu verflachen und die ethische und organische Idee der Freiheit, des<lb/>
socialen Lebens und des Staates in der allgemeinen Anschauung herabzusetzen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1452" next="#ID_1453"> Wir halten uns für incompetent auf diese Angriffe zu antworten, als deren<lb/>
namentliche Objecte Mittermayer, Bluntschli und Holtzendorff erscheinen, und<lb/>
überlassen es einer kundigeren Feder, gelegentlich in dieser Sache ihr Votum ab¬<lb/>
zugeben. Dagegen glauben wir uns berufen, gegen Marianos Urtheil über die<lb/>
Philosophie, Theologie und poetische Literatur unserer Zeit ein Veto einzulegen.<lb/>
Er erklärt: &#x201E;Die Philosophie, die Theologie und die Literatur findet man in<lb/>
den Büchern, welche von Kant und Lessing bis Hegel, Baur und Goethe er¬<lb/>
schienen sind. Wir glauben nicht, daß die modernen Bücher und die gegen¬<lb/>
wärtigen Professoren &#x2014; «xesptis exe-Mönclis &#x2014; das große Deutschland des<lb/>
Gedankens und des Ideals vertreten." Ueber unsere neuere poetische Literatur<lb/>
uur wenige Worte. Sie steht nicht auf der Höhe des Reichthums an Gedanken<lb/>
und der Vollendung der Form, die wir an unseren Classtkern bewundern. Wir<lb/>
besitzen kein Epos, das Goethes &#x201E;Hermann und Dorothea" zur Seite gestellt<lb/>
werden konnte; kein Drama, das mit &#x201E;Iphigenie" und &#x201E;Tasso" wetteifern konnte.<lb/>
Aber Dichter ersten Ranges pflegen auch nicht in jedem Jahrhundert zu er¬<lb/>
stehen. Die Völker sind gemeiniglich lange Zeit darauf angewiesen, vollendete<lb/>
Dichtung und Kunst in Vorbildern der Vergangenheit anzuschauen. Folgt<lb/>
daraus, daß unsere nachelassische poetische Literatur eine schwächliche Epigonen-<lb/>
Literatur ist? Gewiß nicht, und dem entspricht anch durchaus nicht ihr Gehalt.<lb/>
Wir stehen keinen Augenblick an zu behaupten, daß unsere nachelassische Lyrik<lb/>
so zarte und duftige Blüthen getrieben hat, daß sie den Vergleich mit der Lyrik<lb/>
unserer Classiker nicht zu scheuen hat, und daß wir eine Reihe von Romanen<lb/>
aufweisen können, welche die Romane unserer Classiker in den Schatten stellen.<lb/>
Ungerecht ist auch Marianos Urtheil über unsere Philosophie. Er ignorirt die<lb/>
Leistungen unseres philosophischen Theismus, die Werke eines I. H. Fichte,<lb/>
Ulrici, Harms, Carriere, vor allem die Philosophie eines so tiefen, originalen<lb/>
und umfassenden Denkers, wie es H. Lotze ist. Alle diese Männer stehen auf<lb/>
idealem, ethischem, religiösem Boden, und ihre Schriften sind hochgeschätzt und<lb/>
weit verbreitet. Aber auch das Urtheil Marianos über unsere moderne Theo-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0527] scharf geht er mit den Juristen zu Gericht. „In keiner Classe vielleicht macht sich heute die Mittelmäßigkeit so breit wie unter den Juristen; eine Mittel¬ mäßigkeit, die mehr um sich selbst als um die Wissenschaft besorgt ist, die sich ebenso bereit zeigt, zu schmeicheln, als sie selbst der Schmeichelei zugänglich ist, und die danach dürstet, Aufsehen zu erregen und wohlfeile Popularität zu er¬ langen, indem sie einen schwachen, entnervenden, jedem wahren Humanitätsge¬ fühle widersprechenden Humanitarismus zur Schau trägt. Und nichts hat so sehr wie die abstracten Theorien dieser Juristen dazu beigetragen, den politischen Gedanken zu verflachen und die ethische und organische Idee der Freiheit, des socialen Lebens und des Staates in der allgemeinen Anschauung herabzusetzen." Wir halten uns für incompetent auf diese Angriffe zu antworten, als deren namentliche Objecte Mittermayer, Bluntschli und Holtzendorff erscheinen, und überlassen es einer kundigeren Feder, gelegentlich in dieser Sache ihr Votum ab¬ zugeben. Dagegen glauben wir uns berufen, gegen Marianos Urtheil über die Philosophie, Theologie und poetische Literatur unserer Zeit ein Veto einzulegen. Er erklärt: „Die Philosophie, die Theologie und die Literatur findet man in den Büchern, welche von Kant und Lessing bis Hegel, Baur und Goethe er¬ schienen sind. Wir glauben nicht, daß die modernen Bücher und die gegen¬ wärtigen Professoren — «xesptis exe-Mönclis — das große Deutschland des Gedankens und des Ideals vertreten." Ueber unsere neuere poetische Literatur uur wenige Worte. Sie steht nicht auf der Höhe des Reichthums an Gedanken und der Vollendung der Form, die wir an unseren Classtkern bewundern. Wir besitzen kein Epos, das Goethes „Hermann und Dorothea" zur Seite gestellt werden konnte; kein Drama, das mit „Iphigenie" und „Tasso" wetteifern konnte. Aber Dichter ersten Ranges pflegen auch nicht in jedem Jahrhundert zu er¬ stehen. Die Völker sind gemeiniglich lange Zeit darauf angewiesen, vollendete Dichtung und Kunst in Vorbildern der Vergangenheit anzuschauen. Folgt daraus, daß unsere nachelassische poetische Literatur eine schwächliche Epigonen- Literatur ist? Gewiß nicht, und dem entspricht anch durchaus nicht ihr Gehalt. Wir stehen keinen Augenblick an zu behaupten, daß unsere nachelassische Lyrik so zarte und duftige Blüthen getrieben hat, daß sie den Vergleich mit der Lyrik unserer Classiker nicht zu scheuen hat, und daß wir eine Reihe von Romanen aufweisen können, welche die Romane unserer Classiker in den Schatten stellen. Ungerecht ist auch Marianos Urtheil über unsere Philosophie. Er ignorirt die Leistungen unseres philosophischen Theismus, die Werke eines I. H. Fichte, Ulrici, Harms, Carriere, vor allem die Philosophie eines so tiefen, originalen und umfassenden Denkers, wie es H. Lotze ist. Alle diese Männer stehen auf idealem, ethischem, religiösem Boden, und ihre Schriften sind hochgeschätzt und weit verbreitet. Aber auch das Urtheil Marianos über unsere moderne Theo-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/527
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/527>, abgerufen am 23.07.2024.