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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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logie bedarf einer Berichtigung. Vor allem ist es nicht richtig, daß sie auf dem
Wege zu Baur, also innerhalb der sogenannten Tübinger Schule, ihre Höhe
gefunden habe. Ohne die bedeutsamen Anregungen, welche von dort her der
Theologie gekommen sind, verkleinern zu wollen, müssen wir doch behaupten,
daß diese wissenschaftliche Richtung in das innerste Wesen des Christenthums,
in die Heilswahrheit, nicht eingedrungen ist, daß sie daher auf das Leben der
Kirche einen verschwindend geringen Einfluß ausgeübt hat; eine Thatsache, die
den nicht befremden kann, dem es gewiß ist, daß die Kirche auf heilsgeschicht¬
lich vermittelten Realitäten ruht und zu Grunde gehen muß, wo ihr diese ent¬
zogen werden. Es siud ganz andere Männer gewesen, in deren Leistungen wir
die Hohe der theologischen Wissenschaft in unserem Jahrhundert erkennen;
Männer, die ihren Ausgang von Schleiermacher genommen haben, aber durch
Rückgang auf die heilige Schrift sie berichtigt, durch Aufnahme philosophischer
Elemente sie der Gegenwart vermittelt und so die kirchliche Lehrüberlieserung
verjüngt haben. Wir nennen nur die hervorragendsten Vertreter C. I. Nitzsch,
I. Müller, R. Rothe, I. Dörner, von denen der letztere noch unter uns weilt
und vor kurzem begonnen hat, den Gesammtertrag seines religiösen Denkens in
einer Darstellung der christlichen Glaubenslehre niederzulegen. Sollen wir die
Physiognomie der augenblicklich vorherrschenden Theologie charakterisiren, so ist
ihr vor allem der kritische Zug eigen. Das Studium Kants, die Rückkehr zu
seiner Erkenntnißlehre, welche wir an der modernen Philosophie wahrnehmen,
hat auch auf die Theologie Einfluß ausgeübt. Sie legt sich die Frage vor:
Wo liegen die Grenzen religiösen Erkennens? Dürfen wir die Fülle metaphy¬
sischer Speculationen, welche die vorangegangene theologische Generation gehegt,
festhalten, oder müssen wir vielmehr das theologische Gebiet von aller Meta¬
physik frei halten? Diese Frage ist gegenwärtig die brennende, das Für und
Wider bewegt die Geister. So lange sie nicht entschieden ist, wird die Theologie
allerdings in einem Uebergangsstadium sich befinden, aber den Typus des Epi-
gonenthums trägt sie nicht. Es ist ein durchaus berechtigtes Entwicklungsmo¬
ment, das sich in ihr vollzieht. Wie der Ausgang der Bewegung sein wird?
Schwerlich die Ausscheidung des Metaphysischen. Wir halten sie für unmöglich.
Das Christenthum schließt eine Metaphysik in sich, sein ethisches Centrum wird
von einer metaphysischen Peripherie umschlossen. Das Bedürfniß der meta¬
physischen Speculation, das in den Tiefen des menschlichen Geisteslebens be¬
gründet ist, hat vom Christenthum neue Anregung und Wegweisung empfangen.
Aber ebenso sicher dürfen wir, wenn nicht eine Beschränkung, so doch eine ver¬
änderte Werthschätzung des metaphysischen Factors erwarten. Es wird sich die
Ueberzeugung Bahn brechen, daß die metaphysische Speculation wohl eine noth¬
wendige Ergänzung unseres auf den unmittelbaren Thatsachen der Frömmigkeit


logie bedarf einer Berichtigung. Vor allem ist es nicht richtig, daß sie auf dem
Wege zu Baur, also innerhalb der sogenannten Tübinger Schule, ihre Höhe
gefunden habe. Ohne die bedeutsamen Anregungen, welche von dort her der
Theologie gekommen sind, verkleinern zu wollen, müssen wir doch behaupten,
daß diese wissenschaftliche Richtung in das innerste Wesen des Christenthums,
in die Heilswahrheit, nicht eingedrungen ist, daß sie daher auf das Leben der
Kirche einen verschwindend geringen Einfluß ausgeübt hat; eine Thatsache, die
den nicht befremden kann, dem es gewiß ist, daß die Kirche auf heilsgeschicht¬
lich vermittelten Realitäten ruht und zu Grunde gehen muß, wo ihr diese ent¬
zogen werden. Es siud ganz andere Männer gewesen, in deren Leistungen wir
die Hohe der theologischen Wissenschaft in unserem Jahrhundert erkennen;
Männer, die ihren Ausgang von Schleiermacher genommen haben, aber durch
Rückgang auf die heilige Schrift sie berichtigt, durch Aufnahme philosophischer
Elemente sie der Gegenwart vermittelt und so die kirchliche Lehrüberlieserung
verjüngt haben. Wir nennen nur die hervorragendsten Vertreter C. I. Nitzsch,
I. Müller, R. Rothe, I. Dörner, von denen der letztere noch unter uns weilt
und vor kurzem begonnen hat, den Gesammtertrag seines religiösen Denkens in
einer Darstellung der christlichen Glaubenslehre niederzulegen. Sollen wir die
Physiognomie der augenblicklich vorherrschenden Theologie charakterisiren, so ist
ihr vor allem der kritische Zug eigen. Das Studium Kants, die Rückkehr zu
seiner Erkenntnißlehre, welche wir an der modernen Philosophie wahrnehmen,
hat auch auf die Theologie Einfluß ausgeübt. Sie legt sich die Frage vor:
Wo liegen die Grenzen religiösen Erkennens? Dürfen wir die Fülle metaphy¬
sischer Speculationen, welche die vorangegangene theologische Generation gehegt,
festhalten, oder müssen wir vielmehr das theologische Gebiet von aller Meta¬
physik frei halten? Diese Frage ist gegenwärtig die brennende, das Für und
Wider bewegt die Geister. So lange sie nicht entschieden ist, wird die Theologie
allerdings in einem Uebergangsstadium sich befinden, aber den Typus des Epi-
gonenthums trägt sie nicht. Es ist ein durchaus berechtigtes Entwicklungsmo¬
ment, das sich in ihr vollzieht. Wie der Ausgang der Bewegung sein wird?
Schwerlich die Ausscheidung des Metaphysischen. Wir halten sie für unmöglich.
Das Christenthum schließt eine Metaphysik in sich, sein ethisches Centrum wird
von einer metaphysischen Peripherie umschlossen. Das Bedürfniß der meta¬
physischen Speculation, das in den Tiefen des menschlichen Geisteslebens be¬
gründet ist, hat vom Christenthum neue Anregung und Wegweisung empfangen.
Aber ebenso sicher dürfen wir, wenn nicht eine Beschränkung, so doch eine ver¬
änderte Werthschätzung des metaphysischen Factors erwarten. Es wird sich die
Ueberzeugung Bahn brechen, daß die metaphysische Speculation wohl eine noth¬
wendige Ergänzung unseres auf den unmittelbaren Thatsachen der Frömmigkeit


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[0528] logie bedarf einer Berichtigung. Vor allem ist es nicht richtig, daß sie auf dem Wege zu Baur, also innerhalb der sogenannten Tübinger Schule, ihre Höhe gefunden habe. Ohne die bedeutsamen Anregungen, welche von dort her der Theologie gekommen sind, verkleinern zu wollen, müssen wir doch behaupten, daß diese wissenschaftliche Richtung in das innerste Wesen des Christenthums, in die Heilswahrheit, nicht eingedrungen ist, daß sie daher auf das Leben der Kirche einen verschwindend geringen Einfluß ausgeübt hat; eine Thatsache, die den nicht befremden kann, dem es gewiß ist, daß die Kirche auf heilsgeschicht¬ lich vermittelten Realitäten ruht und zu Grunde gehen muß, wo ihr diese ent¬ zogen werden. Es siud ganz andere Männer gewesen, in deren Leistungen wir die Hohe der theologischen Wissenschaft in unserem Jahrhundert erkennen; Männer, die ihren Ausgang von Schleiermacher genommen haben, aber durch Rückgang auf die heilige Schrift sie berichtigt, durch Aufnahme philosophischer Elemente sie der Gegenwart vermittelt und so die kirchliche Lehrüberlieserung verjüngt haben. Wir nennen nur die hervorragendsten Vertreter C. I. Nitzsch, I. Müller, R. Rothe, I. Dörner, von denen der letztere noch unter uns weilt und vor kurzem begonnen hat, den Gesammtertrag seines religiösen Denkens in einer Darstellung der christlichen Glaubenslehre niederzulegen. Sollen wir die Physiognomie der augenblicklich vorherrschenden Theologie charakterisiren, so ist ihr vor allem der kritische Zug eigen. Das Studium Kants, die Rückkehr zu seiner Erkenntnißlehre, welche wir an der modernen Philosophie wahrnehmen, hat auch auf die Theologie Einfluß ausgeübt. Sie legt sich die Frage vor: Wo liegen die Grenzen religiösen Erkennens? Dürfen wir die Fülle metaphy¬ sischer Speculationen, welche die vorangegangene theologische Generation gehegt, festhalten, oder müssen wir vielmehr das theologische Gebiet von aller Meta¬ physik frei halten? Diese Frage ist gegenwärtig die brennende, das Für und Wider bewegt die Geister. So lange sie nicht entschieden ist, wird die Theologie allerdings in einem Uebergangsstadium sich befinden, aber den Typus des Epi- gonenthums trägt sie nicht. Es ist ein durchaus berechtigtes Entwicklungsmo¬ ment, das sich in ihr vollzieht. Wie der Ausgang der Bewegung sein wird? Schwerlich die Ausscheidung des Metaphysischen. Wir halten sie für unmöglich. Das Christenthum schließt eine Metaphysik in sich, sein ethisches Centrum wird von einer metaphysischen Peripherie umschlossen. Das Bedürfniß der meta¬ physischen Speculation, das in den Tiefen des menschlichen Geisteslebens be¬ gründet ist, hat vom Christenthum neue Anregung und Wegweisung empfangen. Aber ebenso sicher dürfen wir, wenn nicht eine Beschränkung, so doch eine ver¬ änderte Werthschätzung des metaphysischen Factors erwarten. Es wird sich die Ueberzeugung Bahn brechen, daß die metaphysische Speculation wohl eine noth¬ wendige Ergänzung unseres auf den unmittelbaren Thatsachen der Frömmigkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/528>, abgerufen am 18.06.2024.