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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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gelten Offiziere die nöthigen Viktualien von ihm selbst zu kaufen genöthigt
wären. Nur dann, wenn wir an eine Kaback -- ein Wirthshaus geringster '
Art -- kamen, wo mit Lebensmitteln handelnde Juden hausten, war es uns
möglich, etwas zu kaufen, was genießbarer war, als schlechtes Wasser und Zukary.
In solchen Kabacken kaufte ich mir, nachdem ich einen meiner Louisd'or in
Silbergeld umgewechselt hatte, Brod, und da ich keinen Branntwein trank, mit
Wasser gemischten Essig.

Bei den Strapatzen, der jämmerlichen Kost und der strengen Kälte war es
nicht zu verwundern, daß ich mich schon nach Verlauf von acht Tagen krank
fühlte. Durch das Gefühl der überhandnehmenden Schwäche entstand in mir
die Besorgniß, bald nicht mehr marschiren zu können, sondern mich nächstens
legen zu müssen und am Ende meinen Begleitern lästig zu falle". Vom Schlitten,
"der Arme-Sünder-Schlitten" genannt, pflegten die auf ihn gepackten Kranken,
sobald sie verschieden waren, bisweilen aber auch solche, die noch nicht todt
waren, abgeworfen und im nahen Gebüsch den Wölfen zur Beute zurückgelassen
zu werden.*) Ich besorgte, daß dies Schicksal auch mir bevorstehe. Solche
peinigende Befürchtungen, die in meiner Seele immer mehr Raum gewannen,
brachten mich, wie ich mich noch dunkel erinnern kann, in der Gegend von
Witebsk auf den Gedanke:?, abermals einem meiner Louisd'or die Rolle eines
Retters zu übertragen. Ich drückte ihn -- unter dem Vorgeben, daß ich ihn
von einem unserer Offiziere geschenkt erhalten, um im Falle meines gänzlichen
Unvermögens zur Fortsetzung des Marsches nicht verlassen zu sein -- einem
russischen Unteroffizier, der gebrochen deutsch sprach, und zu dem ich Zutrauen
hatte, in die Hand, bat ihn, mich nicht zu verlasse", und fügte die Versicherung
hinzu, er werde, wenn er mich lebend nach Petersburg, wo ich Bekannte hätte,
bringen würde, von diesen (dies mußte ich ihm mit Hilfe der Finger begreiflich
machen) fünf solcher Stücke zur Belohnung bekommen. Der Glanz des Goldes
verfehlte zwar bei dem Russen die gewohnte Wirkung nicht, er hegte wohl in
diesem Augenblicke keinen sehnlicheren Wunsch, als mich wohlbehalten an das
bezeichnete Ziel zu bringen, aber meine zerstörte Gesundheit wieder herzustellen
vermochte das Gold nicht. Von Tag zu Tag minderte sich meine Lebenskraft,
und es bemächtigte sich meiner ein völliger Lebensüberdruß. Einem nach dem
anderen von meinen Leidensgefährten kam der Todesengel; durch den vernich¬
tenden Einfluß des Hungers, der Kälte, der Mißhandlungen, des Mangels er¬
quickender Pflege, der Sehnsucht nach der Heimat war ihre Lebenskraft zerstört,



*) Auch andere Berichte bestätigen das traurige Schicksal der in das Innere Rußlands
abgeführten Gefangenen. Vgl. die "Rückblicke ?c." (Minerva, 1317. 2. Bd. S. 4S1) und
die ebenfalls schon angeführte "Darstellung der denkwürdigsten europäischen Weltereignisse"
S- 427.

gelten Offiziere die nöthigen Viktualien von ihm selbst zu kaufen genöthigt
wären. Nur dann, wenn wir an eine Kaback — ein Wirthshaus geringster '
Art — kamen, wo mit Lebensmitteln handelnde Juden hausten, war es uns
möglich, etwas zu kaufen, was genießbarer war, als schlechtes Wasser und Zukary.
In solchen Kabacken kaufte ich mir, nachdem ich einen meiner Louisd'or in
Silbergeld umgewechselt hatte, Brod, und da ich keinen Branntwein trank, mit
Wasser gemischten Essig.

Bei den Strapatzen, der jämmerlichen Kost und der strengen Kälte war es
nicht zu verwundern, daß ich mich schon nach Verlauf von acht Tagen krank
fühlte. Durch das Gefühl der überhandnehmenden Schwäche entstand in mir
die Besorgniß, bald nicht mehr marschiren zu können, sondern mich nächstens
legen zu müssen und am Ende meinen Begleitern lästig zu falle«. Vom Schlitten,
„der Arme-Sünder-Schlitten" genannt, pflegten die auf ihn gepackten Kranken,
sobald sie verschieden waren, bisweilen aber auch solche, die noch nicht todt
waren, abgeworfen und im nahen Gebüsch den Wölfen zur Beute zurückgelassen
zu werden.*) Ich besorgte, daß dies Schicksal auch mir bevorstehe. Solche
peinigende Befürchtungen, die in meiner Seele immer mehr Raum gewannen,
brachten mich, wie ich mich noch dunkel erinnern kann, in der Gegend von
Witebsk auf den Gedanke:?, abermals einem meiner Louisd'or die Rolle eines
Retters zu übertragen. Ich drückte ihn — unter dem Vorgeben, daß ich ihn
von einem unserer Offiziere geschenkt erhalten, um im Falle meines gänzlichen
Unvermögens zur Fortsetzung des Marsches nicht verlassen zu sein — einem
russischen Unteroffizier, der gebrochen deutsch sprach, und zu dem ich Zutrauen
hatte, in die Hand, bat ihn, mich nicht zu verlasse», und fügte die Versicherung
hinzu, er werde, wenn er mich lebend nach Petersburg, wo ich Bekannte hätte,
bringen würde, von diesen (dies mußte ich ihm mit Hilfe der Finger begreiflich
machen) fünf solcher Stücke zur Belohnung bekommen. Der Glanz des Goldes
verfehlte zwar bei dem Russen die gewohnte Wirkung nicht, er hegte wohl in
diesem Augenblicke keinen sehnlicheren Wunsch, als mich wohlbehalten an das
bezeichnete Ziel zu bringen, aber meine zerstörte Gesundheit wieder herzustellen
vermochte das Gold nicht. Von Tag zu Tag minderte sich meine Lebenskraft,
und es bemächtigte sich meiner ein völliger Lebensüberdruß. Einem nach dem
anderen von meinen Leidensgefährten kam der Todesengel; durch den vernich¬
tenden Einfluß des Hungers, der Kälte, der Mißhandlungen, des Mangels er¬
quickender Pflege, der Sehnsucht nach der Heimat war ihre Lebenskraft zerstört,



*) Auch andere Berichte bestätigen das traurige Schicksal der in das Innere Rußlands
abgeführten Gefangenen. Vgl. die „Rückblicke ?c." (Minerva, 1317. 2. Bd. S. 4S1) und
die ebenfalls schon angeführte „Darstellung der denkwürdigsten europäischen Weltereignisse"
S- 427.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/410>, abgerufen am 23.07.2024.