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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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sie verschieden auf freiem Felde oder in elenden Hütten. Auch Offiziere fanden
- auf diesem Zuge ihr Grab. Das Häuflein wurde immer kleiner. Mit neidi¬
schen Augen sah ich auf die Glücklichen, welche das Ziel ihrer schrecklichen
Leiden in den erbarmenden Armen des Todes gefunden hatten. Ich bat, ich
flehte den Himmel an, daß er auch gegen mich barmherzig sein und mir Erlö¬
sung senden möge, und da mein anhaltendes Flehen nicht erhöht wurde, stieß
ich schreckliche Flüche aus und klagte das Schicksal als grausam und teuflisch
an, daß es mich zu so gräßlicher Pein bestimmt habe. Bei Gott! ich mache
mich keiner Uebertreibung schuldig, wenn ich meinen damaligen Zustand eine
gräßliche Pein nenne. An Geist und Körper krank, in elende, die Blöße kaum
deckende Lumpen gehüllt, täglich der schrecklichsten Kälte ausgesetzt, vom heftig¬
ste" Schneegestöber umtobt, vom nagendsten Hunger gequält, unter Kolben¬
schlägen vorwärts getrieben und dabei genöthigt zu sehen, wie umgesunkene
Todte auf freiem Felde zurückgelassen, ja wie selbst noch Lebende, wenn sie sich
nicht mehr fortschleppen konnten, in das Gehölz geworfen und ihrem jammer¬
vollen Schicksale überlassen wurden, war ich fürwahr in einen Abgrund des
Elendes hinabgesunken.

In dieser Verzweiflung war es, in welcher ich den Entschluß faßte, mir
selbst zu geben, was mir das unbarmherzige Schicksal versagte, den Tod. Durch
Erbangen dachte ich von den unsäglichen Qualen am schnellsten und leichtesten
befreit zu werden. Ein Werkzeug und ein Ort fanden sich zur Ausführung
dieses Gedankens bald. Mit einem Stricke, den ich mir von einem mit Kranken
beladenen Schlitten heimlich zu verschaffen gewußt hatte, hing ich mich in einer
Bauernhütte Nachts, als ich meine Umgebung in tiefen Schlaf versunken glaubte,
an einem in der Wand befindlichen Pflöcke auf. Der Pflock wurde aber durch
die Schwere meines Körpers und durch meine Bewegungen locker und riß los.
Ich fiel herunter, das Geräusch meines Sturzes weckte die Schlafenden, und
alle schlugen zum Lohn meiner Unternehmung auf mich ein. Diese schmerzliche
Heilart war aber nicht nur geeignet, mich von dem Gedanken des Erhängens
abzubringen, im Gegentheil bewirkte sie im Verein mit einem neuen, mich er¬
greifenden Uebel, daß der Vorsatz, mein schmerzvolles Dasein durch den Strick
zu endigen, in meinem Innern immer tiefer wurzelte.

Durch die hartnäckigsten Obstructionen, bei welchen die Eingeweide des
Unterleibes allmählich in Brand geriethen -- jedenfalls eine Folge der strengen
Kälte und der elenden Nahrungsmittel -- wurden nicht wenige meiner Kame¬
raden hingeopfert. Auch mich befiel dieses Uebel in so hohem Grade, daß meine
Qual grenzenlos war und ich unaufhörlich den Umständen fluchte, die meine
Absicht, mich zu tödten, vereitelt hatten. Jetzt wenigstens außer Stand gesetzt,
Selbstbefreier von meinen Leiden zu werden, strebte ich, meine namenlosen


sie verschieden auf freiem Felde oder in elenden Hütten. Auch Offiziere fanden
- auf diesem Zuge ihr Grab. Das Häuflein wurde immer kleiner. Mit neidi¬
schen Augen sah ich auf die Glücklichen, welche das Ziel ihrer schrecklichen
Leiden in den erbarmenden Armen des Todes gefunden hatten. Ich bat, ich
flehte den Himmel an, daß er auch gegen mich barmherzig sein und mir Erlö¬
sung senden möge, und da mein anhaltendes Flehen nicht erhöht wurde, stieß
ich schreckliche Flüche aus und klagte das Schicksal als grausam und teuflisch
an, daß es mich zu so gräßlicher Pein bestimmt habe. Bei Gott! ich mache
mich keiner Uebertreibung schuldig, wenn ich meinen damaligen Zustand eine
gräßliche Pein nenne. An Geist und Körper krank, in elende, die Blöße kaum
deckende Lumpen gehüllt, täglich der schrecklichsten Kälte ausgesetzt, vom heftig¬
ste» Schneegestöber umtobt, vom nagendsten Hunger gequält, unter Kolben¬
schlägen vorwärts getrieben und dabei genöthigt zu sehen, wie umgesunkene
Todte auf freiem Felde zurückgelassen, ja wie selbst noch Lebende, wenn sie sich
nicht mehr fortschleppen konnten, in das Gehölz geworfen und ihrem jammer¬
vollen Schicksale überlassen wurden, war ich fürwahr in einen Abgrund des
Elendes hinabgesunken.

In dieser Verzweiflung war es, in welcher ich den Entschluß faßte, mir
selbst zu geben, was mir das unbarmherzige Schicksal versagte, den Tod. Durch
Erbangen dachte ich von den unsäglichen Qualen am schnellsten und leichtesten
befreit zu werden. Ein Werkzeug und ein Ort fanden sich zur Ausführung
dieses Gedankens bald. Mit einem Stricke, den ich mir von einem mit Kranken
beladenen Schlitten heimlich zu verschaffen gewußt hatte, hing ich mich in einer
Bauernhütte Nachts, als ich meine Umgebung in tiefen Schlaf versunken glaubte,
an einem in der Wand befindlichen Pflöcke auf. Der Pflock wurde aber durch
die Schwere meines Körpers und durch meine Bewegungen locker und riß los.
Ich fiel herunter, das Geräusch meines Sturzes weckte die Schlafenden, und
alle schlugen zum Lohn meiner Unternehmung auf mich ein. Diese schmerzliche
Heilart war aber nicht nur geeignet, mich von dem Gedanken des Erhängens
abzubringen, im Gegentheil bewirkte sie im Verein mit einem neuen, mich er¬
greifenden Uebel, daß der Vorsatz, mein schmerzvolles Dasein durch den Strick
zu endigen, in meinem Innern immer tiefer wurzelte.

Durch die hartnäckigsten Obstructionen, bei welchen die Eingeweide des
Unterleibes allmählich in Brand geriethen — jedenfalls eine Folge der strengen
Kälte und der elenden Nahrungsmittel — wurden nicht wenige meiner Kame¬
raden hingeopfert. Auch mich befiel dieses Uebel in so hohem Grade, daß meine
Qual grenzenlos war und ich unaufhörlich den Umständen fluchte, die meine
Absicht, mich zu tödten, vereitelt hatten. Jetzt wenigstens außer Stand gesetzt,
Selbstbefreier von meinen Leiden zu werden, strebte ich, meine namenlosen


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[0411] sie verschieden auf freiem Felde oder in elenden Hütten. Auch Offiziere fanden - auf diesem Zuge ihr Grab. Das Häuflein wurde immer kleiner. Mit neidi¬ schen Augen sah ich auf die Glücklichen, welche das Ziel ihrer schrecklichen Leiden in den erbarmenden Armen des Todes gefunden hatten. Ich bat, ich flehte den Himmel an, daß er auch gegen mich barmherzig sein und mir Erlö¬ sung senden möge, und da mein anhaltendes Flehen nicht erhöht wurde, stieß ich schreckliche Flüche aus und klagte das Schicksal als grausam und teuflisch an, daß es mich zu so gräßlicher Pein bestimmt habe. Bei Gott! ich mache mich keiner Uebertreibung schuldig, wenn ich meinen damaligen Zustand eine gräßliche Pein nenne. An Geist und Körper krank, in elende, die Blöße kaum deckende Lumpen gehüllt, täglich der schrecklichsten Kälte ausgesetzt, vom heftig¬ ste» Schneegestöber umtobt, vom nagendsten Hunger gequält, unter Kolben¬ schlägen vorwärts getrieben und dabei genöthigt zu sehen, wie umgesunkene Todte auf freiem Felde zurückgelassen, ja wie selbst noch Lebende, wenn sie sich nicht mehr fortschleppen konnten, in das Gehölz geworfen und ihrem jammer¬ vollen Schicksale überlassen wurden, war ich fürwahr in einen Abgrund des Elendes hinabgesunken. In dieser Verzweiflung war es, in welcher ich den Entschluß faßte, mir selbst zu geben, was mir das unbarmherzige Schicksal versagte, den Tod. Durch Erbangen dachte ich von den unsäglichen Qualen am schnellsten und leichtesten befreit zu werden. Ein Werkzeug und ein Ort fanden sich zur Ausführung dieses Gedankens bald. Mit einem Stricke, den ich mir von einem mit Kranken beladenen Schlitten heimlich zu verschaffen gewußt hatte, hing ich mich in einer Bauernhütte Nachts, als ich meine Umgebung in tiefen Schlaf versunken glaubte, an einem in der Wand befindlichen Pflöcke auf. Der Pflock wurde aber durch die Schwere meines Körpers und durch meine Bewegungen locker und riß los. Ich fiel herunter, das Geräusch meines Sturzes weckte die Schlafenden, und alle schlugen zum Lohn meiner Unternehmung auf mich ein. Diese schmerzliche Heilart war aber nicht nur geeignet, mich von dem Gedanken des Erhängens abzubringen, im Gegentheil bewirkte sie im Verein mit einem neuen, mich er¬ greifenden Uebel, daß der Vorsatz, mein schmerzvolles Dasein durch den Strick zu endigen, in meinem Innern immer tiefer wurzelte. Durch die hartnäckigsten Obstructionen, bei welchen die Eingeweide des Unterleibes allmählich in Brand geriethen — jedenfalls eine Folge der strengen Kälte und der elenden Nahrungsmittel — wurden nicht wenige meiner Kame¬ raden hingeopfert. Auch mich befiel dieses Uebel in so hohem Grade, daß meine Qual grenzenlos war und ich unaufhörlich den Umständen fluchte, die meine Absicht, mich zu tödten, vereitelt hatten. Jetzt wenigstens außer Stand gesetzt, Selbstbefreier von meinen Leiden zu werden, strebte ich, meine namenlosen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/411>, abgerufen am 23.07.2024.