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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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senden, theils mit dein Tode kämpfenden, theils schon verstorbenen Menschen
kroch ich immer tiefer und tiefer der Wärme nach in diesen gräßlichen Orkus
hinab. Endlich fand ich dort zwischen den Haufen eine mich fassende Vertie¬
fung und schlief alsbald ein. Wie lange ich hier gelegen und geschlafen habe,
ich weiß es nicht. Als ich erwachte, fühlte ich mich etwas gestärkt und hatte
nun erst Besinnung, Ohr und Auge genug, um die Größe des hier hausenden
Elendes ermessen und empfinden zu können. Winseln, Aechzen, Heulen, Zähne¬
klappen, Röcheln der Sterbenden -- das waren die herzzerreißenden Tone, die
meine Ohren füllten. Vom Schlafe gestärkt, arbeitete ich mich durch die ans
mir liegenden Todten und Halbtodten mit größter Anstrengung aus der schreck¬
lichen Dunkelheit heraus und tappte mit den Händen nach der Oeffnung zu,
die mir durch ewige hereinfallende Lichtstrahlen bemerklich wurde. Ich mußte
die in und vor der Oeffnung liegenden Todten entfernen und mich so mit un¬
säglicher Mühe in die wohl 27 Grad kalte Temperatur herauswühlen.

Draußen angekommen, sah ich nun die gleichfalls dem Tode nahe Menge,
die in den pyramidenförmigen Haufen herumwühlte. Mit ängstlicher Gier ent¬
kleideten Lebende die Todten, um sich in die Kleider und Lumpen zu hüllen,
welche ihnen, wenn auch sie den Geist aufgegeben hatten, bald genug wieder
ausgezogen wurden, um Anderen auf kurze Zeit zu erwärmender Bedeckung zu
dienen. Das auf diese Art täglich wohl 3 bis 4 Mal stattfindende Forterben
der zerfetzten Kleidungsstücke, die tragikomischen Figuren derer, die in drei
bis vier Monturen gepreßt, noch athmend, mit starrem Blicke dem Tode ins
Auge sahen, das Hervorziehen der Todten aus der unglückseligen Menschen¬
masse durch die noch etwas kräftigen Lebenden: dies war das jammervolle
Schallspiel, welches jede Minute sich meinen Augen darstellte.

Indem ich mit Zusammenraffen aller meiner Kräfte mich aus dem Orte
der Qual, wo Hoffnung und Verzweiflung, Tod und Leben im entsetzlichsten
Kampfe mit einander begriffen waren, herausgewühlt und mehrere meiner in
Leichen verwandelten Kameraden am Ausgange aus der Schlucht, um ins Freie
zu kommen, hinweggezogen hatte, hatte sich meine Lage zwar geändert, aber
nicht gebessert. Nach eintägigen Herumtreiben in dem Hofe, dem Erfrieren
nahe, kam ich wieder auf den Gedanken, in dem verpesteten Dunstkreise Erwär-
mung und Labung zu suchen. Der Versuch, diesen Gedanken auszuführen, glückte
mir aber nur halb. Trotz aller angewandten Mühe gelang es mir kaum, mir
zwischen den, den Eingang des Gewölbes verstopfenden Leichnamen eine küm¬
merliche Höhle als erwärmende Ruhestätte zu bilde". Kaum hatte ich es jedoch
in dieser peinlichen Situation, in welcher mich alle Schrecknisse des Todes an¬
gähnten, einige Minuten ausgehalten, als ich mich, um das Freie wieder zu
gewinnen, abermals herausarbeitete. Die Noth öffnet die Augen für jedes


senden, theils mit dein Tode kämpfenden, theils schon verstorbenen Menschen
kroch ich immer tiefer und tiefer der Wärme nach in diesen gräßlichen Orkus
hinab. Endlich fand ich dort zwischen den Haufen eine mich fassende Vertie¬
fung und schlief alsbald ein. Wie lange ich hier gelegen und geschlafen habe,
ich weiß es nicht. Als ich erwachte, fühlte ich mich etwas gestärkt und hatte
nun erst Besinnung, Ohr und Auge genug, um die Größe des hier hausenden
Elendes ermessen und empfinden zu können. Winseln, Aechzen, Heulen, Zähne¬
klappen, Röcheln der Sterbenden — das waren die herzzerreißenden Tone, die
meine Ohren füllten. Vom Schlafe gestärkt, arbeitete ich mich durch die ans
mir liegenden Todten und Halbtodten mit größter Anstrengung aus der schreck¬
lichen Dunkelheit heraus und tappte mit den Händen nach der Oeffnung zu,
die mir durch ewige hereinfallende Lichtstrahlen bemerklich wurde. Ich mußte
die in und vor der Oeffnung liegenden Todten entfernen und mich so mit un¬
säglicher Mühe in die wohl 27 Grad kalte Temperatur herauswühlen.

Draußen angekommen, sah ich nun die gleichfalls dem Tode nahe Menge,
die in den pyramidenförmigen Haufen herumwühlte. Mit ängstlicher Gier ent¬
kleideten Lebende die Todten, um sich in die Kleider und Lumpen zu hüllen,
welche ihnen, wenn auch sie den Geist aufgegeben hatten, bald genug wieder
ausgezogen wurden, um Anderen auf kurze Zeit zu erwärmender Bedeckung zu
dienen. Das auf diese Art täglich wohl 3 bis 4 Mal stattfindende Forterben
der zerfetzten Kleidungsstücke, die tragikomischen Figuren derer, die in drei
bis vier Monturen gepreßt, noch athmend, mit starrem Blicke dem Tode ins
Auge sahen, das Hervorziehen der Todten aus der unglückseligen Menschen¬
masse durch die noch etwas kräftigen Lebenden: dies war das jammervolle
Schallspiel, welches jede Minute sich meinen Augen darstellte.

Indem ich mit Zusammenraffen aller meiner Kräfte mich aus dem Orte
der Qual, wo Hoffnung und Verzweiflung, Tod und Leben im entsetzlichsten
Kampfe mit einander begriffen waren, herausgewühlt und mehrere meiner in
Leichen verwandelten Kameraden am Ausgange aus der Schlucht, um ins Freie
zu kommen, hinweggezogen hatte, hatte sich meine Lage zwar geändert, aber
nicht gebessert. Nach eintägigen Herumtreiben in dem Hofe, dem Erfrieren
nahe, kam ich wieder auf den Gedanken, in dem verpesteten Dunstkreise Erwär-
mung und Labung zu suchen. Der Versuch, diesen Gedanken auszuführen, glückte
mir aber nur halb. Trotz aller angewandten Mühe gelang es mir kaum, mir
zwischen den, den Eingang des Gewölbes verstopfenden Leichnamen eine küm¬
merliche Höhle als erwärmende Ruhestätte zu bilde«. Kaum hatte ich es jedoch
in dieser peinlichen Situation, in welcher mich alle Schrecknisse des Todes an¬
gähnten, einige Minuten ausgehalten, als ich mich, um das Freie wieder zu
gewinnen, abermals herausarbeitete. Die Noth öffnet die Augen für jedes


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[0329] senden, theils mit dein Tode kämpfenden, theils schon verstorbenen Menschen kroch ich immer tiefer und tiefer der Wärme nach in diesen gräßlichen Orkus hinab. Endlich fand ich dort zwischen den Haufen eine mich fassende Vertie¬ fung und schlief alsbald ein. Wie lange ich hier gelegen und geschlafen habe, ich weiß es nicht. Als ich erwachte, fühlte ich mich etwas gestärkt und hatte nun erst Besinnung, Ohr und Auge genug, um die Größe des hier hausenden Elendes ermessen und empfinden zu können. Winseln, Aechzen, Heulen, Zähne¬ klappen, Röcheln der Sterbenden — das waren die herzzerreißenden Tone, die meine Ohren füllten. Vom Schlafe gestärkt, arbeitete ich mich durch die ans mir liegenden Todten und Halbtodten mit größter Anstrengung aus der schreck¬ lichen Dunkelheit heraus und tappte mit den Händen nach der Oeffnung zu, die mir durch ewige hereinfallende Lichtstrahlen bemerklich wurde. Ich mußte die in und vor der Oeffnung liegenden Todten entfernen und mich so mit un¬ säglicher Mühe in die wohl 27 Grad kalte Temperatur herauswühlen. Draußen angekommen, sah ich nun die gleichfalls dem Tode nahe Menge, die in den pyramidenförmigen Haufen herumwühlte. Mit ängstlicher Gier ent¬ kleideten Lebende die Todten, um sich in die Kleider und Lumpen zu hüllen, welche ihnen, wenn auch sie den Geist aufgegeben hatten, bald genug wieder ausgezogen wurden, um Anderen auf kurze Zeit zu erwärmender Bedeckung zu dienen. Das auf diese Art täglich wohl 3 bis 4 Mal stattfindende Forterben der zerfetzten Kleidungsstücke, die tragikomischen Figuren derer, die in drei bis vier Monturen gepreßt, noch athmend, mit starrem Blicke dem Tode ins Auge sahen, das Hervorziehen der Todten aus der unglückseligen Menschen¬ masse durch die noch etwas kräftigen Lebenden: dies war das jammervolle Schallspiel, welches jede Minute sich meinen Augen darstellte. Indem ich mit Zusammenraffen aller meiner Kräfte mich aus dem Orte der Qual, wo Hoffnung und Verzweiflung, Tod und Leben im entsetzlichsten Kampfe mit einander begriffen waren, herausgewühlt und mehrere meiner in Leichen verwandelten Kameraden am Ausgange aus der Schlucht, um ins Freie zu kommen, hinweggezogen hatte, hatte sich meine Lage zwar geändert, aber nicht gebessert. Nach eintägigen Herumtreiben in dem Hofe, dem Erfrieren nahe, kam ich wieder auf den Gedanken, in dem verpesteten Dunstkreise Erwär- mung und Labung zu suchen. Der Versuch, diesen Gedanken auszuführen, glückte mir aber nur halb. Trotz aller angewandten Mühe gelang es mir kaum, mir zwischen den, den Eingang des Gewölbes verstopfenden Leichnamen eine küm¬ merliche Höhle als erwärmende Ruhestätte zu bilde«. Kaum hatte ich es jedoch in dieser peinlichen Situation, in welcher mich alle Schrecknisse des Todes an¬ gähnten, einige Minuten ausgehalten, als ich mich, um das Freie wieder zu gewinnen, abermals herausarbeitete. Die Noth öffnet die Augen für jedes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/329>, abgerufen am 26.06.2024.