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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Rettungsmittel. Dies war auch hier bei mir der Fall. Ich sah im Hofe einen
gewölbten Brunnen. Diesen wühlte ich bei der furchtbaren Kälte, die durch
den scharfe" Luftzug wohl bis 28 Grad gestiegen war, zu meinem Schutzorte.
Er gewährte mir auch einen schützenden, obgleich sehr engen, nur drei Schritte
weiten Zufluchtsort. Mein Fußboden war sein in dichtes Eis verwandeltes
Wasser, das kalte Gemäuer war meine Decke. An diesem drehte ich mich -- da
ich, wenn ich nicht erfrieren wollte, weder sitzen noch längere Zeit stehen durfte --
fast fortwährend, nur mit kurzen Unterbrechungen, zwei Tage und zwei Nächte
lang in einem Kreise herum. Ein Stück rohes Pferdefleisch, an dem ich nagte,
an meinen gräßlichen Hunger zu stillen, war dabei meine ganze Nahrung. Der
schon erwähnte mitleidige gothaische Feldwebel, dem ich hente noch dafür danke,
hatte, die bevorstehende harte Noth ahnend, mir dieses Stück Fleisch von einer
Keule geschenkt, welche er einem der noch nicht abgenagten Pferde abgeschnitten
hatte. So sehr mich anfangs auch der Genuß dieses Nahrungsmittels anwi¬
derte, ein so erquickendes Labsal wurde mir das für die Zeit der höchsten Noth
aufgesparte in der düstern, eiskalten Behausung des Brunnens.

Nach zweitägigem Aufenthalte in diesem Wasserbehälter vernahm ich das
Rufen der Russen- Ich verließ auf dieses Signal mein schauerliches Quartier,
gesellte mich zu meinen Unglücksgenossen und wurde mit ihnen, etwa 300 bis
^-00 an Zahl, sämmtlich mit erfrorenen Gliedmaßen, abgehungert und fast be¬
sinnungslos, aus dem Hofe hinausgeführt. Wir gehörten größtenteils zu deu
erst später eingebrachten; von den vorher an diesen Ort transportirten, die zu¬
sammen mit den später angekommenen einige Tausende betragen mochten, waren
uur wenige noch am Leben. Besonders sinnreich und beharrlich in Erfindung
Kor Hilfs- und Nahrungsmitteln hatten sich die Franzosen gezeigt. Koth und
Lehm brachten sie am Feuer zum Aufthauen und bildeten daraus, mit Hilfe
des Schnees, eine teigartige Masse, mit der sie das Aeußere ihrer Tschakos be¬
stachen. So benutzten sie letztere als Gefäße, in denen sie aus deu Kleien,
welche außerhalb der Mauer steheude Juden durch die Schießscharten in Sück-
chen den heißhungrig danach langenden für Geld hineinschvben, einen Brei
kochten. Hunderte griffen, um sich des Hungertodes zu erwehren, über einander
herfallend mit ungestümer Gier danach und leckten den an den verbrannten
Händen klebenden Kleister mit dem größten Appetite ab. Viele blieben während
und nach dein Genusse dieser Kost, die unter den gegebenen Umständen ein
wahrer Leckerbissen war, todt auf einander liegen, indem sie noch bis zu ihrem
letzten Athemzuge auf Hilfe hofften und sich einander trösteten.

(Schluß folgt.)




Rettungsmittel. Dies war auch hier bei mir der Fall. Ich sah im Hofe einen
gewölbten Brunnen. Diesen wühlte ich bei der furchtbaren Kälte, die durch
den scharfe» Luftzug wohl bis 28 Grad gestiegen war, zu meinem Schutzorte.
Er gewährte mir auch einen schützenden, obgleich sehr engen, nur drei Schritte
weiten Zufluchtsort. Mein Fußboden war sein in dichtes Eis verwandeltes
Wasser, das kalte Gemäuer war meine Decke. An diesem drehte ich mich — da
ich, wenn ich nicht erfrieren wollte, weder sitzen noch längere Zeit stehen durfte —
fast fortwährend, nur mit kurzen Unterbrechungen, zwei Tage und zwei Nächte
lang in einem Kreise herum. Ein Stück rohes Pferdefleisch, an dem ich nagte,
an meinen gräßlichen Hunger zu stillen, war dabei meine ganze Nahrung. Der
schon erwähnte mitleidige gothaische Feldwebel, dem ich hente noch dafür danke,
hatte, die bevorstehende harte Noth ahnend, mir dieses Stück Fleisch von einer
Keule geschenkt, welche er einem der noch nicht abgenagten Pferde abgeschnitten
hatte. So sehr mich anfangs auch der Genuß dieses Nahrungsmittels anwi¬
derte, ein so erquickendes Labsal wurde mir das für die Zeit der höchsten Noth
aufgesparte in der düstern, eiskalten Behausung des Brunnens.

Nach zweitägigem Aufenthalte in diesem Wasserbehälter vernahm ich das
Rufen der Russen- Ich verließ auf dieses Signal mein schauerliches Quartier,
gesellte mich zu meinen Unglücksgenossen und wurde mit ihnen, etwa 300 bis
^-00 an Zahl, sämmtlich mit erfrorenen Gliedmaßen, abgehungert und fast be¬
sinnungslos, aus dem Hofe hinausgeführt. Wir gehörten größtenteils zu deu
erst später eingebrachten; von den vorher an diesen Ort transportirten, die zu¬
sammen mit den später angekommenen einige Tausende betragen mochten, waren
uur wenige noch am Leben. Besonders sinnreich und beharrlich in Erfindung
Kor Hilfs- und Nahrungsmitteln hatten sich die Franzosen gezeigt. Koth und
Lehm brachten sie am Feuer zum Aufthauen und bildeten daraus, mit Hilfe
des Schnees, eine teigartige Masse, mit der sie das Aeußere ihrer Tschakos be¬
stachen. So benutzten sie letztere als Gefäße, in denen sie aus deu Kleien,
welche außerhalb der Mauer steheude Juden durch die Schießscharten in Sück-
chen den heißhungrig danach langenden für Geld hineinschvben, einen Brei
kochten. Hunderte griffen, um sich des Hungertodes zu erwehren, über einander
herfallend mit ungestümer Gier danach und leckten den an den verbrannten
Händen klebenden Kleister mit dem größten Appetite ab. Viele blieben während
und nach dein Genusse dieser Kost, die unter den gegebenen Umständen ein
wahrer Leckerbissen war, todt auf einander liegen, indem sie noch bis zu ihrem
letzten Athemzuge auf Hilfe hofften und sich einander trösteten.

(Schluß folgt.)




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[0330] Rettungsmittel. Dies war auch hier bei mir der Fall. Ich sah im Hofe einen gewölbten Brunnen. Diesen wühlte ich bei der furchtbaren Kälte, die durch den scharfe» Luftzug wohl bis 28 Grad gestiegen war, zu meinem Schutzorte. Er gewährte mir auch einen schützenden, obgleich sehr engen, nur drei Schritte weiten Zufluchtsort. Mein Fußboden war sein in dichtes Eis verwandeltes Wasser, das kalte Gemäuer war meine Decke. An diesem drehte ich mich — da ich, wenn ich nicht erfrieren wollte, weder sitzen noch längere Zeit stehen durfte — fast fortwährend, nur mit kurzen Unterbrechungen, zwei Tage und zwei Nächte lang in einem Kreise herum. Ein Stück rohes Pferdefleisch, an dem ich nagte, an meinen gräßlichen Hunger zu stillen, war dabei meine ganze Nahrung. Der schon erwähnte mitleidige gothaische Feldwebel, dem ich hente noch dafür danke, hatte, die bevorstehende harte Noth ahnend, mir dieses Stück Fleisch von einer Keule geschenkt, welche er einem der noch nicht abgenagten Pferde abgeschnitten hatte. So sehr mich anfangs auch der Genuß dieses Nahrungsmittels anwi¬ derte, ein so erquickendes Labsal wurde mir das für die Zeit der höchsten Noth aufgesparte in der düstern, eiskalten Behausung des Brunnens. Nach zweitägigem Aufenthalte in diesem Wasserbehälter vernahm ich das Rufen der Russen- Ich verließ auf dieses Signal mein schauerliches Quartier, gesellte mich zu meinen Unglücksgenossen und wurde mit ihnen, etwa 300 bis ^-00 an Zahl, sämmtlich mit erfrorenen Gliedmaßen, abgehungert und fast be¬ sinnungslos, aus dem Hofe hinausgeführt. Wir gehörten größtenteils zu deu erst später eingebrachten; von den vorher an diesen Ort transportirten, die zu¬ sammen mit den später angekommenen einige Tausende betragen mochten, waren uur wenige noch am Leben. Besonders sinnreich und beharrlich in Erfindung Kor Hilfs- und Nahrungsmitteln hatten sich die Franzosen gezeigt. Koth und Lehm brachten sie am Feuer zum Aufthauen und bildeten daraus, mit Hilfe des Schnees, eine teigartige Masse, mit der sie das Aeußere ihrer Tschakos be¬ stachen. So benutzten sie letztere als Gefäße, in denen sie aus deu Kleien, welche außerhalb der Mauer steheude Juden durch die Schießscharten in Sück- chen den heißhungrig danach langenden für Geld hineinschvben, einen Brei kochten. Hunderte griffen, um sich des Hungertodes zu erwehren, über einander herfallend mit ungestümer Gier danach und leckten den an den verbrannten Händen klebenden Kleister mit dem größten Appetite ab. Viele blieben während und nach dein Genusse dieser Kost, die unter den gegebenen Umständen ein wahrer Leckerbissen war, todt auf einander liegen, indem sie noch bis zu ihrem letzten Athemzuge auf Hilfe hofften und sich einander trösteten. (Schluß folgt.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/330>, abgerufen am 23.07.2024.