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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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alten Pelze zu verdanken, den ich früher unter die Montur und in die Hosen
gekröpft hatte, und der mir von den Russen gelassen worden war. Gegen
Mittag wurden wir von diesem Schreckensvrte abgeführt. Weinend blickten wir
unsere verhungerten und knochenfest gefrorenen Kameraden an; jeder von uns
sagte sich schweigend, daß auch ihn bald gleiches Schicksal treffen werde.

Nachmittags 3 Uhr kamen wir vor Wilna ein.") Hier wurden wir, gegen
6000 an Zahl, in einen von hohen Mauern umgebenen Hof eingesperrt, in
welchem Leichen und gefallene Pferde in Menge lagen. Von den Gebäuden,
die, wie mir gesagt wurde, Ueberreste eines Klosters und bis auf die Mauern
verbrannt und zerstört waren, sah man nur noch die kahlen Wände und ein
steinernes Gewölbe. Die meisten der hier liegenden todten Pferde waren binnen
einigen Tagen von den Hungrigen bis auf die Knochen abgenagt. Mit dem
aus dem Gemäuer allsgebrochenen, noch nicht ganz verbrannten Holze wurde
Feuer angezündet, zu welchem sich alles abgehungert und ermattet hindrängte.
In vielen vermochte die spärliche Flamme den Lebensfunken nicht zu unterhal¬
ten; er verlosch. Auf den hingestreckten Leichen suchten Lebende Wärme; auch
sie verwandelten sich bald in Leichname, und so bildeten sich pyramidenförmige
Todtenhaufen.

Das vorhin erwähnte, in diesem Hose befindliche Gewölbe hielten die "leisten
für einen schirmenden Zufluchtsort. Dahin wankten, dahin krochen sie gespen¬
sterartig, mit klappernden Zähnen, mit zitternden Händen, mit behenden Füßen,
mit halb oder schon ganz erfrorenen Gliedern. O die Unglücklichen! Doch nein,
die Glücklichen! muß ich sagen, denn dort nahte sich den meisten der Todes-
wgel und löschte ihnen sanft das noch schwach glimmende Lebenslicht aus.

Nach diesem, mit schlafenden, sterbenden und todten Menschen angefüllten
Gewölbe trieb mich, den bis zum höchsten Grade ermatteten und vom Froste
erstarrten, die Sehnsucht, nur einige Minuten des lange entbehrten Schlafes
on genießen und von einem wärmenden Hauche berührt zu werdeu, mochte er
auch aus einer Pesthöhle kommen. Welche Mühe kostete es, in dieser grauen¬
vollen Grotte zu finden, was ich suchte! Ich kroch über die Todten, welche
bis zur halben Höhe des Eingangs zu diesem Behälter aufgeschichtet lagen,
hinweg und zwängte mich durch die kleine Oeffnung herein, nicht zurückgeschreckt
durch den mir entgegenkommenden warmen Dunst, der mir, dem Halberfrorenen,
vielmehr ein Labsal war. Ueber die an drei Ellen hoch liegenden, theils schla-



*) Die nachfolgende grcincncrregende Schilderung von dem furchtbaren Elend in den
Lazarethen Wilnas und von der entsetzlichen Behandlung der Gefangenen wird durch die
Berichte anderer Augenzeugen bestätigt. Vgl. Thcuß a. a. O. S. 23, und die Notiz in den
schon oben erwähnten "Rückblicken auf die Kriegsvperatiouen der Russischen und Französischen
Sciteucirmecu im Feldzuge von 1812" S. 447 fig.

alten Pelze zu verdanken, den ich früher unter die Montur und in die Hosen
gekröpft hatte, und der mir von den Russen gelassen worden war. Gegen
Mittag wurden wir von diesem Schreckensvrte abgeführt. Weinend blickten wir
unsere verhungerten und knochenfest gefrorenen Kameraden an; jeder von uns
sagte sich schweigend, daß auch ihn bald gleiches Schicksal treffen werde.

Nachmittags 3 Uhr kamen wir vor Wilna ein.") Hier wurden wir, gegen
6000 an Zahl, in einen von hohen Mauern umgebenen Hof eingesperrt, in
welchem Leichen und gefallene Pferde in Menge lagen. Von den Gebäuden,
die, wie mir gesagt wurde, Ueberreste eines Klosters und bis auf die Mauern
verbrannt und zerstört waren, sah man nur noch die kahlen Wände und ein
steinernes Gewölbe. Die meisten der hier liegenden todten Pferde waren binnen
einigen Tagen von den Hungrigen bis auf die Knochen abgenagt. Mit dem
aus dem Gemäuer allsgebrochenen, noch nicht ganz verbrannten Holze wurde
Feuer angezündet, zu welchem sich alles abgehungert und ermattet hindrängte.
In vielen vermochte die spärliche Flamme den Lebensfunken nicht zu unterhal¬
ten; er verlosch. Auf den hingestreckten Leichen suchten Lebende Wärme; auch
sie verwandelten sich bald in Leichname, und so bildeten sich pyramidenförmige
Todtenhaufen.

Das vorhin erwähnte, in diesem Hose befindliche Gewölbe hielten die «leisten
für einen schirmenden Zufluchtsort. Dahin wankten, dahin krochen sie gespen¬
sterartig, mit klappernden Zähnen, mit zitternden Händen, mit behenden Füßen,
mit halb oder schon ganz erfrorenen Gliedern. O die Unglücklichen! Doch nein,
die Glücklichen! muß ich sagen, denn dort nahte sich den meisten der Todes-
wgel und löschte ihnen sanft das noch schwach glimmende Lebenslicht aus.

Nach diesem, mit schlafenden, sterbenden und todten Menschen angefüllten
Gewölbe trieb mich, den bis zum höchsten Grade ermatteten und vom Froste
erstarrten, die Sehnsucht, nur einige Minuten des lange entbehrten Schlafes
on genießen und von einem wärmenden Hauche berührt zu werdeu, mochte er
auch aus einer Pesthöhle kommen. Welche Mühe kostete es, in dieser grauen¬
vollen Grotte zu finden, was ich suchte! Ich kroch über die Todten, welche
bis zur halben Höhe des Eingangs zu diesem Behälter aufgeschichtet lagen,
hinweg und zwängte mich durch die kleine Oeffnung herein, nicht zurückgeschreckt
durch den mir entgegenkommenden warmen Dunst, der mir, dem Halberfrorenen,
vielmehr ein Labsal war. Ueber die an drei Ellen hoch liegenden, theils schla-



*) Die nachfolgende grcincncrregende Schilderung von dem furchtbaren Elend in den
Lazarethen Wilnas und von der entsetzlichen Behandlung der Gefangenen wird durch die
Berichte anderer Augenzeugen bestätigt. Vgl. Thcuß a. a. O. S. 23, und die Notiz in den
schon oben erwähnten „Rückblicken auf die Kriegsvperatiouen der Russischen und Französischen
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/328>, abgerufen am 18.06.2024.