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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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den er nun in Wahrheit verdient hat, krönt ihn, Natalie ist sein und als dem
Sieger von Fehrbellin ruft man ihm Heil und Segen.

Wir haben diese Uebersicht, bei der wir größtentheils Adolf Wilbrandt in dessen
Biographie Kleists gefolgt sind, hier so ausführlich gegeben, weil man sich zur
Zeit auf das Stück thatsächlich noch nicht als auf etwas allgemein Bekanntes
beziehen kann. Das Theaterpublikum hat dem Stücke fortwährend kalt gegenüber
gestanden und zwar bis in die neueste Zeit hinein, bis die Meininger es mit dem
Leben ihres Verständnisses durchwärmten. Wer wie der Verfasser das Interesse
gehabt hat, das Stück ein halb Dutzend Mal an verschiedenen Orten zu sehen
und dabei das Publikum in seinen Aeußerungen zu belauschen, muß eine ziemlich
allgemein verbreitete Unkenntniß des Stückes und eine geringe Theilnahme und
Erwärmung des Publikums bei den Aufführungen desselben als Thatfache
aussprechen. Und was das Lesepublikum angeht, so gebe man sich ja nicht
irgend welcher Selbsttäuschung in Bezug auf die Meisterwerke unsrer dramatischen
Literatur hin. Nur in den allerexklusivsten, ästhetisch gebildetsten Kreisen ist
das Stück im Text wirklich gelesen worden, in jener Sphäre geistigen Lebens
und ästhetischen Bedürfnisses, welche den Berufsklassen des ersten Ranges und
Balkons in Prvvinzialtheatern zum allergrößten Theile gänzlich fremd ist. Und
daran haben weder die einsichtigen Intendanzen in den fünfziger Jahren, noch
die bewährten Kenner und Herausgeber viel ändern können, sondern nur, wie
gesagt, die Meiniuger. Doch haben die Erstgenannten unzweifelhaft zum Ver¬
ständniß und damit zum Erfolge viel beigetragen.

In Bezug auf den "Prinzen von Homburg" hat es von Anfang an in der Lite¬
ratur und in der Theaterwelt einen speciellen Streitpunkt gegeben: die ästhetische
und theatralische Zulässigkeit der Todesfurchtseene; er ist es gewesen, der wohl
zweifellos auch das erste verhängnißvolle Mißgeschick des Stückes zu Kleists Leb¬
zeiten verschuldet hat, und dessen Nichterledigung bis auf die neueste Zeit schon ein
Beweis ist für die große Schwierigkeit einer befriedigenden Lösung. Diese Lösung
ist gegenwärtig erzielt worden, und zwar zu Gunsten des Dichters. Nicht durch
autoritativen Richterspruch oder subtile Untersuchung, sondern wie alle gordischen
Knoten, durch eine That ist sie erfolgt. Wir haben den "Prinzen von Homburg"
vier Mal von den Meiningern darstellen gesehen, und jedesmal machte die
betreffende Seine auf das Publikum einen wahren und ästhetisch nicht ver¬
letzenden Endruck. Bei Einzelnen war der Eindruck ein etwas befremdlicher,
aber bei Allen ein tieferschütternder. Allerdings steigt die Scene bis in die
tiefsten Tiefen der menschlichen Natur hinab, aber sie ist nicht unwahr, nicht
unästhetisch und nicht -- unausführbar. Damit sind Dichter und Darsteller ge¬
rechtfertigt. Wer mochte es dem Dichter verwehren, wenn er die singulären
Phänomene der menschlichen Brust zu Vorlagen seiner Darstellungen macht?


den er nun in Wahrheit verdient hat, krönt ihn, Natalie ist sein und als dem
Sieger von Fehrbellin ruft man ihm Heil und Segen.

Wir haben diese Uebersicht, bei der wir größtentheils Adolf Wilbrandt in dessen
Biographie Kleists gefolgt sind, hier so ausführlich gegeben, weil man sich zur
Zeit auf das Stück thatsächlich noch nicht als auf etwas allgemein Bekanntes
beziehen kann. Das Theaterpublikum hat dem Stücke fortwährend kalt gegenüber
gestanden und zwar bis in die neueste Zeit hinein, bis die Meininger es mit dem
Leben ihres Verständnisses durchwärmten. Wer wie der Verfasser das Interesse
gehabt hat, das Stück ein halb Dutzend Mal an verschiedenen Orten zu sehen
und dabei das Publikum in seinen Aeußerungen zu belauschen, muß eine ziemlich
allgemein verbreitete Unkenntniß des Stückes und eine geringe Theilnahme und
Erwärmung des Publikums bei den Aufführungen desselben als Thatfache
aussprechen. Und was das Lesepublikum angeht, so gebe man sich ja nicht
irgend welcher Selbsttäuschung in Bezug auf die Meisterwerke unsrer dramatischen
Literatur hin. Nur in den allerexklusivsten, ästhetisch gebildetsten Kreisen ist
das Stück im Text wirklich gelesen worden, in jener Sphäre geistigen Lebens
und ästhetischen Bedürfnisses, welche den Berufsklassen des ersten Ranges und
Balkons in Prvvinzialtheatern zum allergrößten Theile gänzlich fremd ist. Und
daran haben weder die einsichtigen Intendanzen in den fünfziger Jahren, noch
die bewährten Kenner und Herausgeber viel ändern können, sondern nur, wie
gesagt, die Meiniuger. Doch haben die Erstgenannten unzweifelhaft zum Ver¬
ständniß und damit zum Erfolge viel beigetragen.

In Bezug auf den „Prinzen von Homburg" hat es von Anfang an in der Lite¬
ratur und in der Theaterwelt einen speciellen Streitpunkt gegeben: die ästhetische
und theatralische Zulässigkeit der Todesfurchtseene; er ist es gewesen, der wohl
zweifellos auch das erste verhängnißvolle Mißgeschick des Stückes zu Kleists Leb¬
zeiten verschuldet hat, und dessen Nichterledigung bis auf die neueste Zeit schon ein
Beweis ist für die große Schwierigkeit einer befriedigenden Lösung. Diese Lösung
ist gegenwärtig erzielt worden, und zwar zu Gunsten des Dichters. Nicht durch
autoritativen Richterspruch oder subtile Untersuchung, sondern wie alle gordischen
Knoten, durch eine That ist sie erfolgt. Wir haben den „Prinzen von Homburg"
vier Mal von den Meiningern darstellen gesehen, und jedesmal machte die
betreffende Seine auf das Publikum einen wahren und ästhetisch nicht ver¬
letzenden Endruck. Bei Einzelnen war der Eindruck ein etwas befremdlicher,
aber bei Allen ein tieferschütternder. Allerdings steigt die Scene bis in die
tiefsten Tiefen der menschlichen Natur hinab, aber sie ist nicht unwahr, nicht
unästhetisch und nicht — unausführbar. Damit sind Dichter und Darsteller ge¬
rechtfertigt. Wer mochte es dem Dichter verwehren, wenn er die singulären
Phänomene der menschlichen Brust zu Vorlagen seiner Darstellungen macht?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/289>, abgerufen am 23.07.2024.