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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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lehrten, der durch eine fast 25 jährige Arbeit an dem Nationalwerke des Grimm-
schen Wörterbuchs den Lesern dieser Blätter längst bekannt ist. Es wird in
dieser Schrift eine Angelegenheit von so allgemeinem, weil nationalem Interesse
behandelt, daß wir die Verpflichtung zu einem ausführlicheren Berichte über
dieselbe nicht abweisen können. Ihre meisterhafte, vom frischesten Leben be¬
seelte Darstellung beweist, daß es dem Ernste und der Würde des Gegen¬
standes nicht schadet, wenn dergleichen Dinge einmal nicht in dem trockenen
Tone akademischer Schulsprache behandelt werden. Gerade in der herzlichen
Innigkeit, in der schlichten, schönen Einfalt der Sprache liegt zum Theil das
Geheimniß der Wirkung, die diese Schrift auf jeden ausüben muß, dem die
Sprache der Wahrheit und Natur verständlich ist. Man mag wollen oder nicht,
man muß den Mann liebgewinnen, dessen Worte solchen Seelenadel und solche
Gemüthstiefe bekunden. Und wie der sittliche Ernst und die Hoheit der Ge¬
sinnung uns mit Verehrung für den Menschen erfüllen, so wohlthuend wirkt
der feine, treffende und dabei gutmüthige Humor, mit dein der Verfasser in
seine ernsten Betrachtungen anmuthigste Abwechslung zu bringen weiß.

Die Grundgedanken, an die Hildebrand seine prüfenden Bemerkungen und
Erläuterungen anknüpft, find so einfach und selbstverständlich, in der Theorie
eigentlich auch schon so anerkannt, daß man sich nur wundern kann, wie es so
schwer ist, in der Praxis sie durchzukämpfen. Wie natürlich klingt doch die
Forderung: "Der Sprachunterricht sollte mit der Sprache zugleich den Inhalt
der Sprache voll und frisch und warm erfassen!" Es ist nichts Kleines, was
mit der Erfüllung dieser Forderung erreicht wäre. Statt bloßer leerer Worte
die lebendige, mit Inhalt erfüllte Sache! Damit würde schon in der Schule
der hohlen, klingenden Phrase, die sich im Leben oft so unheilvoll breit macht,
die Wurzel abgeschnitten und nicht minder der frühzeitigen, ungesunden Abstrac-
tion, die das frische Leben tödtet; fort wäre der kalte, leere Formalismus, der
die Dinge bloß verstandesmäßig aufnimmt, statt sie mit dem innersten Interesse
des ganzen Menschen zu ergreifen, sich lebendig zu eigen zu machen. Und was
wäre erst gewonnen, wenn "der Lehrer nichts mehr lehrte, was die Schüler
selbst aus sich finden können, wenn er sie alles das unter feiner Leitung
finden ließe!" Dann wäre es aus mit der knechtenden Herrschaft des Ge¬
dächtnisses, das "sich nur erdrückend, überschüttend, Bewegung hemmend über
den Geist lagert". Was Hildebrand zur Begründung der angeführten Sätze
und über ihre Bedeutuug für die ganze Gemüths- und Charakterbildung einer
nach solchen Grundsätzen unterrichteten und erzogenen Jugend sagt, sind goldene
Worte. Was manchem wohl oft wie viel zu hoch gegriffen oder wie traum¬
haft unmöglich oder gar wie revolutionär aussieht, das gelingt ihm "ans Theorie
und Erfahrung als das Einfachste, Nächste, Sicherste zu erweisen".


lehrten, der durch eine fast 25 jährige Arbeit an dem Nationalwerke des Grimm-
schen Wörterbuchs den Lesern dieser Blätter längst bekannt ist. Es wird in
dieser Schrift eine Angelegenheit von so allgemeinem, weil nationalem Interesse
behandelt, daß wir die Verpflichtung zu einem ausführlicheren Berichte über
dieselbe nicht abweisen können. Ihre meisterhafte, vom frischesten Leben be¬
seelte Darstellung beweist, daß es dem Ernste und der Würde des Gegen¬
standes nicht schadet, wenn dergleichen Dinge einmal nicht in dem trockenen
Tone akademischer Schulsprache behandelt werden. Gerade in der herzlichen
Innigkeit, in der schlichten, schönen Einfalt der Sprache liegt zum Theil das
Geheimniß der Wirkung, die diese Schrift auf jeden ausüben muß, dem die
Sprache der Wahrheit und Natur verständlich ist. Man mag wollen oder nicht,
man muß den Mann liebgewinnen, dessen Worte solchen Seelenadel und solche
Gemüthstiefe bekunden. Und wie der sittliche Ernst und die Hoheit der Ge¬
sinnung uns mit Verehrung für den Menschen erfüllen, so wohlthuend wirkt
der feine, treffende und dabei gutmüthige Humor, mit dein der Verfasser in
seine ernsten Betrachtungen anmuthigste Abwechslung zu bringen weiß.

Die Grundgedanken, an die Hildebrand seine prüfenden Bemerkungen und
Erläuterungen anknüpft, find so einfach und selbstverständlich, in der Theorie
eigentlich auch schon so anerkannt, daß man sich nur wundern kann, wie es so
schwer ist, in der Praxis sie durchzukämpfen. Wie natürlich klingt doch die
Forderung: „Der Sprachunterricht sollte mit der Sprache zugleich den Inhalt
der Sprache voll und frisch und warm erfassen!" Es ist nichts Kleines, was
mit der Erfüllung dieser Forderung erreicht wäre. Statt bloßer leerer Worte
die lebendige, mit Inhalt erfüllte Sache! Damit würde schon in der Schule
der hohlen, klingenden Phrase, die sich im Leben oft so unheilvoll breit macht,
die Wurzel abgeschnitten und nicht minder der frühzeitigen, ungesunden Abstrac-
tion, die das frische Leben tödtet; fort wäre der kalte, leere Formalismus, der
die Dinge bloß verstandesmäßig aufnimmt, statt sie mit dem innersten Interesse
des ganzen Menschen zu ergreifen, sich lebendig zu eigen zu machen. Und was
wäre erst gewonnen, wenn „der Lehrer nichts mehr lehrte, was die Schüler
selbst aus sich finden können, wenn er sie alles das unter feiner Leitung
finden ließe!" Dann wäre es aus mit der knechtenden Herrschaft des Ge¬
dächtnisses, das „sich nur erdrückend, überschüttend, Bewegung hemmend über
den Geist lagert". Was Hildebrand zur Begründung der angeführten Sätze
und über ihre Bedeutuug für die ganze Gemüths- und Charakterbildung einer
nach solchen Grundsätzen unterrichteten und erzogenen Jugend sagt, sind goldene
Worte. Was manchem wohl oft wie viel zu hoch gegriffen oder wie traum¬
haft unmöglich oder gar wie revolutionär aussieht, das gelingt ihm „ans Theorie
und Erfahrung als das Einfachste, Nächste, Sicherste zu erweisen".


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/180>, abgerufen am 23.07.2024.