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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Wohl Jeder kennt aus seiner Schulzeit das Gefühl plagender Geistesöde,
das manchen Erwachsenen vielleicht als unerquicklichste Erinnerung an die "deut¬
schen Stunden" ins Leben begleitet, ein Gefühl, das andere Unterrichtsgegen¬
stände schon deshalb im Schüler nicht so aufkommen lassen, weil er "da etwas
Neues lernt, weil dem Umkreis, den er im Geiste überschauen und beherrschen
lernt, ein neues Feld hinzugefügt wird". Für dieses Hauptleiter des deutschen
Unterrichts, dieses "Gefühl innerer Leere, das ans Einseitigkeit der bloß for¬
mellen Verstandesthätigkeit fließt", die früher auf jenen Unterricht fast durch-
gehends verwendet wurde, würde die Durchführung des ersten Hauptsatzes vom
Inhalte der Sprache die gründlichste Abhilfe gewähren. "Den Stoff, um den
es sich beim deutschen Sprachunterricht handelt, bringt ja Jeder nach seinem
Gefühle bereits voll und fertig mit, es ist sogar der eigenste Besitz eines Jeden,
ein Besitz, der wie ein Gefäß ist mit dein Wichtigsten und Eigensten als In¬
halt, das der Einzelne bis zu dem Tage sich erworben hat, seine Lebens- oder
Weltanschauung -- und wohlverstanden, auch der Schüler, selbst der kleinste,
bringt schon eine kleine Weltanschauung mit in die Schule, wenn darin auch
von Principien und Organismus noch nicht die Rede ist, wie bei den Großen;
und doch, sittliche und praktische Grundgedanken sind auch in der kleinen Welt¬
anschauung schon vorhanden, in Form von Ahnungen, die aus eigenen kleinen
Erfahrungen in ihn kamen, oder als Sprüchwörter, die er zu Hause oder unter
seinen Spielgenossen gehört und ahnend ihren Kern erfaßt hat. Und wie liegt
das den Kindern bereit zur Hand, nach Inhalt und Form! Wie lebhaft reden
sie in der Zwischenstunde oder auf dem Spielplatze von einem bestimmten Vor¬
fall unter ihnen, wie streiten sie da, wer recht oder unrecht hat, mit beredten
Worten, wie fließt da die deutsche Rede, und die in der Stunde die stummsten,
sind da gern die beredtesten, und es fehlt ihnen kein Wort und keine Wendung,
und auch Syntax und Satzbau sind schon da, etwas aber und etwas recht
Wichtiges in einer Vollendung, die in den Stunden kaum die Begabtesten in
der höchsten Klasse so zu Tage bringen -- die rechte Betonung in der unfa߬
barsten Mannigfaltigkeit und Wirksamkeit u. s. w." Kann es einen reicheren,
lebendigeren, bequemeren Unterrichtsstoff geben für den Lehrer? Die Jungen
selber lehren's einen ja, das gute alte xootus ost (zuoä 5Äoit äisortum d. h.
das Herz, das lebendige, innerlichste Interesse ist es, was beredt macht. Da
gilt es nur -- freilich eine nicht ganz leichte Kunst -- an den vorgefundenen
Stoff und die gegebene Form anzuknüpfen, berichtigend und bessernd, jenen
läuternd, diese bildend. Das Verfahren, das die NatUr selber uns an die Hand
giebt anstatt "verknöcherter Ueberlieferung", sollte man frisch und keck in die
Schule einführen. Wie wird die Muttersprache naturgemäß gelernt von dem
Kinde, das die Schule noch nicht kennt? "Ein neuer Gegenstand wird einem


Wohl Jeder kennt aus seiner Schulzeit das Gefühl plagender Geistesöde,
das manchen Erwachsenen vielleicht als unerquicklichste Erinnerung an die „deut¬
schen Stunden" ins Leben begleitet, ein Gefühl, das andere Unterrichtsgegen¬
stände schon deshalb im Schüler nicht so aufkommen lassen, weil er „da etwas
Neues lernt, weil dem Umkreis, den er im Geiste überschauen und beherrschen
lernt, ein neues Feld hinzugefügt wird". Für dieses Hauptleiter des deutschen
Unterrichts, dieses „Gefühl innerer Leere, das ans Einseitigkeit der bloß for¬
mellen Verstandesthätigkeit fließt", die früher auf jenen Unterricht fast durch-
gehends verwendet wurde, würde die Durchführung des ersten Hauptsatzes vom
Inhalte der Sprache die gründlichste Abhilfe gewähren. „Den Stoff, um den
es sich beim deutschen Sprachunterricht handelt, bringt ja Jeder nach seinem
Gefühle bereits voll und fertig mit, es ist sogar der eigenste Besitz eines Jeden,
ein Besitz, der wie ein Gefäß ist mit dein Wichtigsten und Eigensten als In¬
halt, das der Einzelne bis zu dem Tage sich erworben hat, seine Lebens- oder
Weltanschauung — und wohlverstanden, auch der Schüler, selbst der kleinste,
bringt schon eine kleine Weltanschauung mit in die Schule, wenn darin auch
von Principien und Organismus noch nicht die Rede ist, wie bei den Großen;
und doch, sittliche und praktische Grundgedanken sind auch in der kleinen Welt¬
anschauung schon vorhanden, in Form von Ahnungen, die aus eigenen kleinen
Erfahrungen in ihn kamen, oder als Sprüchwörter, die er zu Hause oder unter
seinen Spielgenossen gehört und ahnend ihren Kern erfaßt hat. Und wie liegt
das den Kindern bereit zur Hand, nach Inhalt und Form! Wie lebhaft reden
sie in der Zwischenstunde oder auf dem Spielplatze von einem bestimmten Vor¬
fall unter ihnen, wie streiten sie da, wer recht oder unrecht hat, mit beredten
Worten, wie fließt da die deutsche Rede, und die in der Stunde die stummsten,
sind da gern die beredtesten, und es fehlt ihnen kein Wort und keine Wendung,
und auch Syntax und Satzbau sind schon da, etwas aber und etwas recht
Wichtiges in einer Vollendung, die in den Stunden kaum die Begabtesten in
der höchsten Klasse so zu Tage bringen — die rechte Betonung in der unfa߬
barsten Mannigfaltigkeit und Wirksamkeit u. s. w." Kann es einen reicheren,
lebendigeren, bequemeren Unterrichtsstoff geben für den Lehrer? Die Jungen
selber lehren's einen ja, das gute alte xootus ost (zuoä 5Äoit äisortum d. h.
das Herz, das lebendige, innerlichste Interesse ist es, was beredt macht. Da
gilt es nur — freilich eine nicht ganz leichte Kunst — an den vorgefundenen
Stoff und die gegebene Form anzuknüpfen, berichtigend und bessernd, jenen
läuternd, diese bildend. Das Verfahren, das die NatUr selber uns an die Hand
giebt anstatt „verknöcherter Ueberlieferung", sollte man frisch und keck in die
Schule einführen. Wie wird die Muttersprache naturgemäß gelernt von dem
Kinde, das die Schule noch nicht kennt? „Ein neuer Gegenstand wird einem


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[0181] Wohl Jeder kennt aus seiner Schulzeit das Gefühl plagender Geistesöde, das manchen Erwachsenen vielleicht als unerquicklichste Erinnerung an die „deut¬ schen Stunden" ins Leben begleitet, ein Gefühl, das andere Unterrichtsgegen¬ stände schon deshalb im Schüler nicht so aufkommen lassen, weil er „da etwas Neues lernt, weil dem Umkreis, den er im Geiste überschauen und beherrschen lernt, ein neues Feld hinzugefügt wird". Für dieses Hauptleiter des deutschen Unterrichts, dieses „Gefühl innerer Leere, das ans Einseitigkeit der bloß for¬ mellen Verstandesthätigkeit fließt", die früher auf jenen Unterricht fast durch- gehends verwendet wurde, würde die Durchführung des ersten Hauptsatzes vom Inhalte der Sprache die gründlichste Abhilfe gewähren. „Den Stoff, um den es sich beim deutschen Sprachunterricht handelt, bringt ja Jeder nach seinem Gefühle bereits voll und fertig mit, es ist sogar der eigenste Besitz eines Jeden, ein Besitz, der wie ein Gefäß ist mit dein Wichtigsten und Eigensten als In¬ halt, das der Einzelne bis zu dem Tage sich erworben hat, seine Lebens- oder Weltanschauung — und wohlverstanden, auch der Schüler, selbst der kleinste, bringt schon eine kleine Weltanschauung mit in die Schule, wenn darin auch von Principien und Organismus noch nicht die Rede ist, wie bei den Großen; und doch, sittliche und praktische Grundgedanken sind auch in der kleinen Welt¬ anschauung schon vorhanden, in Form von Ahnungen, die aus eigenen kleinen Erfahrungen in ihn kamen, oder als Sprüchwörter, die er zu Hause oder unter seinen Spielgenossen gehört und ahnend ihren Kern erfaßt hat. Und wie liegt das den Kindern bereit zur Hand, nach Inhalt und Form! Wie lebhaft reden sie in der Zwischenstunde oder auf dem Spielplatze von einem bestimmten Vor¬ fall unter ihnen, wie streiten sie da, wer recht oder unrecht hat, mit beredten Worten, wie fließt da die deutsche Rede, und die in der Stunde die stummsten, sind da gern die beredtesten, und es fehlt ihnen kein Wort und keine Wendung, und auch Syntax und Satzbau sind schon da, etwas aber und etwas recht Wichtiges in einer Vollendung, die in den Stunden kaum die Begabtesten in der höchsten Klasse so zu Tage bringen — die rechte Betonung in der unfa߬ barsten Mannigfaltigkeit und Wirksamkeit u. s. w." Kann es einen reicheren, lebendigeren, bequemeren Unterrichtsstoff geben für den Lehrer? Die Jungen selber lehren's einen ja, das gute alte xootus ost (zuoä 5Äoit äisortum d. h. das Herz, das lebendige, innerlichste Interesse ist es, was beredt macht. Da gilt es nur — freilich eine nicht ganz leichte Kunst — an den vorgefundenen Stoff und die gegebene Form anzuknüpfen, berichtigend und bessernd, jenen läuternd, diese bildend. Das Verfahren, das die NatUr selber uns an die Hand giebt anstatt „verknöcherter Ueberlieferung", sollte man frisch und keck in die Schule einführen. Wie wird die Muttersprache naturgemäß gelernt von dem Kinde, das die Schule noch nicht kennt? „Ein neuer Gegenstand wird einem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/181>, abgerufen am 25.08.2024.