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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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ragender Pianistinnen, die Chopins Unterricht genossen, und von^Freunden
Chopins zu Theil geworden. Ganz ähnlich liegen die Dinge bei der Petersschen
Ausgabe. Auch Hermann Schvltz in Dresden, einer der vorzüglichsten und
intimsten Chopin-Kenner, hat neben den Originalausgaben und einer Anzahl
Autographen drei Bünde Chopinscher Compositionen benutzen können, die im
Besitze einer früheren Schülerin Chopins, der Frau Generalin von Heygendorf
in Dresden sind -- ihr ist 0x. 62 gewidmet --, und in denen sich Berichti¬
gungen und Ergänzungen von Chopins Hand vorfinden; ebenso ist er an
zweifelhaften Stellen durch den Rath eines langjährigen Chopin-Schülers, des
Herrn Georges Mathias, Professor am Conservatvrium in Paris, unterstützt
worden. Ueber die große kritische Ausgabe von Breitkopf <K Härtel können
wir nur wiederholen, was die Verlagshandlung vor kurzem bei Gelegenheit der
Ankündigung der von C. Reinecke besorgten "Volksausgabe" mittheilte, daß
nämlich auch für die letztere "Chopins Handschriften im Besitz der Verlagshand-
lung, sowie die durch W. Bargiel, I. Brechens, F. Lißt, C. Reinecke, E. Rudorff ge¬
wonnenen kritischen Resultate der großen Gesammtausgabe" verwerthet worden sind.

Sicherlich werden auch die übrigen Verlagshandlungen, die jetzt mit neuen
Chopin-Ausgaben hervortreten, bemüht gewesen sein, nach Maßgabe der ihnen
zu Gebote stehenden Kräfte und Mittel ihr Bestes zu bieten. Zu beklagen ist
es dennoch, daß alle diese zahlreichen Hilfsquellen, die zum Theil von dieser,
zum Theil von jener Seite ausgenutzt worden find, nicht in einen Strom
haben geleitet werden können, sondern durch die Concurrenz und die unausbleib¬
lich damit verknüpfte eifersüchtige Geheimthuerei zersplittert worden sind. Es
ist undenkbar, daß nicht trotz aller Handschriften, Originalausgaben, eigenhän¬
diger Aenderungen und Berichtigungen des Componisten und aller "lebendi¬
ger Tradition" im Kreise der Schüler Chopins schließlich doch der subjectiven
Meinung, der Neigung und dem Geschmack der einzelnen Herausgeber ein ge¬
wisser Spielraum geblieben sein sollte, und es ist daher sehr wahrscheinlich, daß,
wenn nun die sämmtlichen Ausgaben vorliegen werden, eine sorgfältige Ver-
gleichung derselben zu manchen gegenseitigen Ueberraschungen und zu kritischen
Differenzen führen wird, die unsere an permanenten Stoffmangel leidenden
musikalischen Zeitschriften für längere Zeit mit willkommenen Material ver¬
sorgen dürften. Jedenfalls wird keine einzige Ausgabe mit dem Anspruch hin¬
treten können, einen unfehlbaren Text zu bieten; sie werden, was die Textge¬
staltung anbetrifft, vielfach nur eine vorläufige, keine definitive Bedeutung
haben; manche Lesart, die mit dem Ansprüche der Echtheit auftritt, wird be¬
gründeten Zweifeln verfallen. Dann erst, wenn das bisher ängstlich geheim¬
gehaltene Material längere Zeit zur Prüfung offen gelegen haben wird, wird
es möglich sein, vielleicht nach so und so viel Jahren einmal, einen Text


ragender Pianistinnen, die Chopins Unterricht genossen, und von^Freunden
Chopins zu Theil geworden. Ganz ähnlich liegen die Dinge bei der Petersschen
Ausgabe. Auch Hermann Schvltz in Dresden, einer der vorzüglichsten und
intimsten Chopin-Kenner, hat neben den Originalausgaben und einer Anzahl
Autographen drei Bünde Chopinscher Compositionen benutzen können, die im
Besitze einer früheren Schülerin Chopins, der Frau Generalin von Heygendorf
in Dresden sind — ihr ist 0x. 62 gewidmet —, und in denen sich Berichti¬
gungen und Ergänzungen von Chopins Hand vorfinden; ebenso ist er an
zweifelhaften Stellen durch den Rath eines langjährigen Chopin-Schülers, des
Herrn Georges Mathias, Professor am Conservatvrium in Paris, unterstützt
worden. Ueber die große kritische Ausgabe von Breitkopf <K Härtel können
wir nur wiederholen, was die Verlagshandlung vor kurzem bei Gelegenheit der
Ankündigung der von C. Reinecke besorgten „Volksausgabe" mittheilte, daß
nämlich auch für die letztere „Chopins Handschriften im Besitz der Verlagshand-
lung, sowie die durch W. Bargiel, I. Brechens, F. Lißt, C. Reinecke, E. Rudorff ge¬
wonnenen kritischen Resultate der großen Gesammtausgabe" verwerthet worden sind.

Sicherlich werden auch die übrigen Verlagshandlungen, die jetzt mit neuen
Chopin-Ausgaben hervortreten, bemüht gewesen sein, nach Maßgabe der ihnen
zu Gebote stehenden Kräfte und Mittel ihr Bestes zu bieten. Zu beklagen ist
es dennoch, daß alle diese zahlreichen Hilfsquellen, die zum Theil von dieser,
zum Theil von jener Seite ausgenutzt worden find, nicht in einen Strom
haben geleitet werden können, sondern durch die Concurrenz und die unausbleib¬
lich damit verknüpfte eifersüchtige Geheimthuerei zersplittert worden sind. Es
ist undenkbar, daß nicht trotz aller Handschriften, Originalausgaben, eigenhän¬
diger Aenderungen und Berichtigungen des Componisten und aller „lebendi¬
ger Tradition" im Kreise der Schüler Chopins schließlich doch der subjectiven
Meinung, der Neigung und dem Geschmack der einzelnen Herausgeber ein ge¬
wisser Spielraum geblieben sein sollte, und es ist daher sehr wahrscheinlich, daß,
wenn nun die sämmtlichen Ausgaben vorliegen werden, eine sorgfältige Ver-
gleichung derselben zu manchen gegenseitigen Ueberraschungen und zu kritischen
Differenzen führen wird, die unsere an permanenten Stoffmangel leidenden
musikalischen Zeitschriften für längere Zeit mit willkommenen Material ver¬
sorgen dürften. Jedenfalls wird keine einzige Ausgabe mit dem Anspruch hin¬
treten können, einen unfehlbaren Text zu bieten; sie werden, was die Textge¬
staltung anbetrifft, vielfach nur eine vorläufige, keine definitive Bedeutung
haben; manche Lesart, die mit dem Ansprüche der Echtheit auftritt, wird be¬
gründeten Zweifeln verfallen. Dann erst, wenn das bisher ängstlich geheim¬
gehaltene Material längere Zeit zur Prüfung offen gelegen haben wird, wird
es möglich sein, vielleicht nach so und so viel Jahren einmal, einen Text


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/84>, abgerufen am 28.09.2024.